Lesetipp "Die Maschine steht still"

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maroc

Lesetipp "Die Maschine steht still"

Beitrag von maroc » 27.02.2017 14:43:27

Allen, denen ihre Online-Existenz noch Zeit zum Bücherlesen lässt, möchte ich folgenden Titel nachdrücklich empfehlen:

Forster, E. M.: Die Maschine steht still. Hamburg: Hoffmann und Campe, 2016. 15,00 EUR

Als ich die dystopische Erzählung vor Jahren zum ersten Mal (im englischen Original) las, ergriff mich schon nach wenigen Sätzen ein Erstaunen, das bis zur letzten Seite anhielt: Hier hat ein Autor bereits 1909 (!) – da erschien die Erzählung erstmals – das Internet vorausgeahnt und beschrieben. Weder fehlen facebook-artige Kommunikationsstrukturen (die Protagonistin Vashti hat ein paar Tausend Bekannte) noch eine Art "Internet der Dinge", wie es uns ja erst noch bevorsteht. Natürlich darf man in den Details keine Eins-zu-eins-Beschreibung unserer modernen digitalen Technik erwarten. Aber gerade das "Altmodische", das klassischen Zukunftsromanen ja immer auch anhaftet, vermag bei uns heutigen Lesern eine durchaus anregende Irritation im Sinne eines Verfremdungseffektes zu erzeugen.

Die eigentliche Leistung Forsters besteht m. E. jedoch in einer luziden Vorwegnahme medienkritischer Einwände, wie sie vergleichbar erst wieder nachdenkliche Stimmen gegen Ende des 20. Jahrhunderts formulierten. Ein Beispiel ist die "Enträumlichung" der Erfahrungswelt, die Kuno, der erwachsene Sohn Vashtis, erkannt hat:
"Wie Du weißt, haben wir unser Raumgefühl verloren. Wir sagen „der Raum wurde eliminiert“, dabei wurde nicht der Raum, sondern unser Gefühl für den Raum eliminiert. [...] Das konnte ich nicht länger hinnehmen, also fing ich damit an, den Bahnsteig vor meinem Zimmer auf und ab zu gehen. [...] So eroberte ich mir die Bedeutung von „nah“ und „fern“ zurück. „Nah“ ist der Ort, der sich schnell erreichen lässt – zu Fuß [...] (S. 36-37)"
Der gleiche Gedanke liest sich bei einem Medientheoretiker fast neunzig Jahre später so: "Wir nehmen Abschied von den handgreiflichen Realitäten des Raumes und tauchen ein in die Metarealität der medialen Äquidistanzen." (Bernd Guggenberger, Das digitale Nirwana, Hamburg: Rotbuch-Verl. 1997, S. 18)

Selbst das "postfaktische Zeitalter" scheint Forster vorausgeahnt zu haben: "Bald schon [...] wird es eine Generation geben, die alle Tatsachen und Eindrücke hinter sich gelassen hat." (S. 59)

Ich habe das Fehlen einer Übersetzung von Forsters visionärer Dystopie lange als Mangel empfunden, nun endlich liegt eine deutsche Ausgabe vor. Selbst wenn man Forsters düsterem Pessimismus nicht folgen mag, ist das schmale Buch (80 Seiten) eine bereichernde Lektüre für alle, die sich nicht nur fragen: "Was kann ich mit den digitalen Medien machen", sondern auch: "Was machen die digitalen Medien mit mir?"

AndreK
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Re: Lesetipp "Die Maschine steht still"

Beitrag von AndreK » 27.02.2017 15:03:17

maroc hat geschrieben:Allen, denen ihre Online-Existenz noch Zeit zum Bücherlesen lässt, möchte ich folgenden Titel nachdrücklich empfehlen:

Forster, E. M.: Die Maschine steht still. Hamburg: Hoffmann und Campe, 2016. 15,00 EUR

Als ich die dystopische Erzählung vor Jahren zum ersten Mal (im englischen Original) las, ergriff mich schon nach wenigen Sätzen ein Erstaunen, das bis zur letzten Seite anhielt: Hier hat ein Autor bereits 1909 (!) – da erschien die Erzählung erstmals – das Internet vorausgeahnt und beschrieben. Weder fehlen facebook-artige Kommunikationsstrukturen (die Protagonistin Vashti hat ein paar Tausend Bekannte) noch eine Art "Internet der Dinge", wie es uns ja erst noch bevorsteht. Natürlich darf man in den Details keine Eins-zu-eins-Beschreibung unserer modernen digitalen Technik erwarten. Aber gerade das "Altmodische", das klassischen Zukunftsromanen ja immer auch anhaftet, vermag bei uns heutigen Lesern eine durchaus anregende Irritation im Sinne eines Verfremdungseffektes zu erzeugen.

Die eigentliche Leistung Forsters besteht m. E. jedoch in einer luziden Vorwegnahme medienkritischer Einwände, wie sie vergleichbar erst wieder nachdenkliche Stimmen gegen Ende des 20. Jahrhunderts formulierten. Ein Beispiel ist die "Enträumlichung" der Erfahrungswelt, die Kuno, der erwachsene Sohn Vashtis, erkannt hat:
"Wie Du weißt, haben wir unser Raumgefühl verloren. Wir sagen „der Raum wurde eliminiert“, dabei wurde nicht der Raum, sondern unser Gefühl für den Raum eliminiert. [...] Das konnte ich nicht länger hinnehmen, also fing ich damit an, den Bahnsteig vor meinem Zimmer auf und ab zu gehen. [...] So eroberte ich mir die Bedeutung von „nah“ und „fern“ zurück. „Nah“ ist der Ort, der sich schnell erreichen lässt – zu Fuß [...] (S. 36-37)"
Der gleiche Gedanke liest sich bei einem Medientheoretiker fast neunzig Jahre später so: "Wir nehmen Abschied von den handgreiflichen Realitäten des Raumes und tauchen ein in die Metarealität der medialen Äquidistanzen." (Bernd Guggenberger, Das digitale Nirwana, Hamburg: Rotbuch-Verl. 1997, S. 18)

Selbst das "postfaktische Zeitalter" scheint Forster vorausgeahnt zu haben: "Bald schon [...] wird es eine Generation geben, die alle Tatsachen und Eindrücke hinter sich gelassen hat." (S. 59)

Ich habe das Fehlen einer Übersetzung von Forsters visionärer Dystopie lange als Mangel empfunden, nun endlich liegt eine deutsche Ausgabe vor. Selbst wenn man Forsters düsterem Pessimismus nicht folgen mag, ist das schmale Buch (80 Seiten) eine bereichernde Lektüre für alle, die sich nicht nur fragen: "Was kann ich mit den digitalen Medien machen", sondern auch: "Was machen die digitalen Medien mit mir?"
OK, ich habe versucht Dich zu verstehen, aber es nicht geschafft. Sorry. :facepalm:

Um was geht es denn in dem Buch, ist das ein Liebesroman, SciFi, Politik, Biografie ... ? :?:

maroc

Re: Lesetipp "Die Maschine steht still"

Beitrag von maroc » 27.02.2017 15:21:02

Sorry, wenn meine Buchempfehlung etwas wirr daherkam ... :oops:
AndreK hat geschrieben:Um was geht es denn in dem Buch, ist das ein Liebesroman, SciFi, Politik, Biografie ... ?
SciFi trifft die Sache ganz gut: Die Menschen leben abgekapselt in unterirdischen, wabenartigen Zellen. Sie sind fast ausschließlich nur noch durch ein universelles Kommunikations- und Informationsmedium miteinander verbunden. Während Vashti, eine Frau mittleren Alters, die sogenannte "Maschine" auf fast religiöse Art verehrt, versucht ihr Sohn aus dem System auszubrechen: Er fasst den Plan, die – inzwischen verseuchte und verwüstete – Erdoberfläche zu besuchen, um sich wieder eine menschengemäße Erfahrung aus erster Hand anzueignen.

Und keine Angst: Forster kann sich wesentlich besser ausdrücken als ich, seine Sprache ist sehr einfach und klar. :wink:

whiizy
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Re: Lesetipp "Die Maschine steht still"

Beitrag von whiizy » 27.02.2017 16:03:54

@maroc
Danke für den Tip! Hab's mir in der Wabe Wolke bestellt!

KP97
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Re: Lesetipp "Die Maschine steht still"

Beitrag von KP97 » 27.02.2017 16:09:48

@maroc
Vielen Dank für den Hinweis, der absolut nicht verwirrend war. ich habe es mir gerade bestellt.

@AndreK
Fullquote für einen einzigen Antwortsatz, das muß nun wirklich nicht sein. Äußerst störend.

rockyracoon
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Re: Lesetipp "Die Maschine steht still"

Beitrag von rockyracoon » 27.02.2017 16:42:46

@maroc:
Danke für den Literatur-Tip. Du hast Dich klar und verständlich ausgedrückt. :THX:

Radfahrer

Re: Lesetipp "Die Maschine steht still"

Beitrag von Radfahrer » 27.02.2017 19:20:49

KP97 hat geschrieben: @AndreK
Fullquote für einen einzigen Antwortsatz, das muß nun wirklich nicht sein. Äußerst störend.
Sag bloß, du hast das nicht alles zweimal hintereinander gelesen? :lol:

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Re: Lesetipp "Die Maschine steht still"

Beitrag von Meillo » 02.03.2017 10:32:42

Interessant, dass die Geschichte zwischen ``Zimmer mit Aussicht'' und ``Howards End'' -- zwei so sehr andersartigen Werken -- raus kam.

Die Wikipedia hat uebrigens ausfuehrliche Seiten (de + en) zu ``Die Maschine steht still''.
Use ed once in a while!

KP97
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Re: Lesetipp "Die Maschine steht still"

Beitrag von KP97 » 08.03.2017 21:10:26

Ich habe es gelesen und es hat mir gut gefallen, man muß immer das Jahr 1909 im Kopf behalten.
Der Autor war sicher ein interessanter Mensch und seinen Zeitgenossen weit voraus.
Ich hätte ihn gerne mal kennengelernt...

plankton

Re: Lesetipp "Die Maschine steht still"

Beitrag von plankton » 10.03.2017 14:30:44

Ich fand besonders diesen Satz gegen Ende lustig: "Es hieß, der Korrekturapparat selbst sei korrekturbedürftig."

Musste gleich hier dran denken.

:mrgreen:

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