Warum schweigen die Lämmer?

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BenutzerGa4gooPh

Re: Warum schweigen die Lämmer?

Beitrag von BenutzerGa4gooPh » 21.10.2016 15:13:41

Stimmt, einige Kriege und Putsche hat der Westen (USA) gewonnen, einschl. Chile und Iran. Die Mehrzahl der Einwohner und die Menschenrechte hatten wohl eher die Arschkarte dabei gezogen. Na ja, Kollateralschäden klingt wirklich besser (oder verharmlosender). Ironie wurde verstanden. :wink:
https://de.m.wikipedia.org/wiki/Beziehu ... en_Staaten
(Vorsicht, beim Lesen kann einem übel werden.)

Brasilien: Mir war bis dato nur bekannt, die Präsidentin wurde wegen Korruption abgesetzt. Thema ist oder "wurde" untergegangen. Danke für den Hinweis (auf nötige Weiterbildung). :mrgreen: :THX:

Ein Volk lässt sich nur durch Gewalt oder Verdummung beherrschen.

Zu Brasilien fand ich das: https://www.jungewelt.de/2016/09-05/038.php und http://m.heute.de/ZDF/zdfportal/xml/object/45046992
(Wem die Links nicht gefallen, kann sich gern andere suchen.)

TomL

Re: Warum schweigen die Lämmer?

Beitrag von TomL » 21.10.2016 19:44:36

Jana66 hat geschrieben:Stimmt, einige Kriege und Putsche hat der Westen (USA) gewonnen, einschl. Chile und Iran. Die Mehrzahl der Einwohner und die Menschenrechte hatten wohl eher die Arschkarte dabei gezogen. Na ja, Kollateralschäden klingt wirklich besser (oder verharmlosender). Ironie wurde verstanden.
https://de.m.wikipedia.org/wiki/Beziehu ... en_Staaten
Ich habe gesten abend beim kurzen reinzappen in die ZDF-Illner-Gesprächsprächsrunde zum Thema "Putin" erstmalig den Begriff "Multipolare Weltordnung" gehört und dass eben genau das eines der wesentlichen Interessen von Putin ist - insbesondere seit Russland nach dem Zerfall der Sowjetunion durch die USA als "unbedeutendes mittelasiatisches Land" bezeichnet wurde - was anscheinend für die Russen unerträglich ist.

Dem gegenüber steht natürlich das unbedingte Interesse der USA am Festhalten des Status Quo, also der weitere Fortbestand der bestehenden "Unipolaren Weltordnug", in der sich selbstverständlich die USA als Herrscherhaus resp. als führende Weltmacht sehen. "Herrscherhaus" habe ich jetzt hinzugefügt, weil ich immer öfter denke, dass das, was in der Welt passiert und meist durch die USA losgetreten wurde, eigentlich nicht von uns europäischen Bürgern mitgetragen würde.... zumindest kann ich mir das nicht vorstellen, dass die große Masse der EU-Bürger dem zustimmen würde, wenn allen die Wahrheit bewusst wäre. Der hier von mir negativ assozierte Begriff "Herrscherhaus" kam mir (leicht zynisch motiviert) in den Sinn, weil ich heute manchmal denke, dass wir in den Augen der USA nur einfache Vasallen sind, die dem "Hohen Haus" auf Weisung zu folgen haben.... und wenn wir nicht folgen, kriegen wir einen Tritt in den Arsch. Und das ergänzend habe ich dann auch noch die Idee, dass wir "Deutschland" bei weitem nicht so souverän in unserem Handeln und autonom in unseren Entscheidungen sind, wie zum Beispiel die Franzosen oder die Engländer. Obwohl wir ein Wirtschaftsgigant sind glaube ich manchmal, wir haben tatsächlich keinen höheren Stellenwert als das kleine Luxenburg oder Belgien, und dementsprechend auch nicht mehr Einfluss auf die Geopolitik. Deutschland ist -so scheint es mir manchmal- irgendwie nur eine politische Ressource der USA oder wird vielleicht von dort als solche gesehen.

Aber egal... im Bogen zurück zur Politik und den schweigenden Lämmern... die TTIP nicht verhindern können, und auch nicht solche umfassenden Flat-Rate-Befugnisse, wie sie heute der BND erhalten hat. Wenn ich mir jetzt anschaue, welche wirtschaftlichen (und vielleicht auch militärischen) Gegner [1] uns unsere USA-folgsamen Politker und die aggressiv ausgerichtete westliche Geopolitik neben dem islamischen Terror bescheren, dann glaube ich, es ist keine Zeit mehr, politische Änderungen aufzuschieben. Die EU bzw. die sich zur EU bekennenden Nationen müssen sich m.E. endlich ihrer eigenen Stärke und Souveränität, Autonomie und Autarkie bewusst werden und sich dann von dem Einfluss der USA befreien. Möglicherweise beendet das auch die von den USA begonnenen oder forcierten Kriege. Wenn es eine "Multipolare Weltordnung" geben sollte, dann müssen wir Europäer ein Mitspieler auf Augenhöhe auf diesem Spielfeld sein.... und zwar ausdrücklich NICHT als Steigbügelhalter oder Tritt-Buckel, über den die USA den Welt-Gaul besteigen. Im Moment glaube ich, die Russen mit Sanktionen zu belegen ist der falsche Weg. Vielleicht sollte wir uns lieber ohne die USA dem anderen Bündnis anschließen, damit nicht wir "Europa" letztendlich auf nem Schutt-Haufen liegen.

Ralli sagt "packen wir es an"..... aber wo ist der verdammte Griff, den man packen kann. :evil:

[1] http://www.hintergrund.de/201512113775/ ... dnung.html
Zuletzt geändert von TomL am 21.10.2016 22:43:56, insgesamt 2-mal geändert.

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Re: Warum schweigen die Lämmer?

Beitrag von ralli » 21.10.2016 19:57:18

Nun ja, manchmal gibt es ein wenig Licht im Tunnel, zumindest CETA scheint ja erst Mal abgewendet zu sein. Die belgische Region Wallonie hat sich gegen CETA entschieden, so das der Vertrag nicht ratifiziert werden kann.
Wer nicht lieben kann, muß hassen. Wer nicht aufbauen kann muß zerstören. Wer keine Brücken baut, muß spalten.

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Re: Warum schweigen die Lämmer?

Beitrag von TomL » 21.10.2016 19:59:21

Luxuslurch hat geschrieben:Dass unsere Bundeswehreinsätze Flüchtlinge produzieren würden, halte ich mal für eine ideologisch verbrämte These. Boko Haram, ISIS und die Taliban sind da zumindest unter den aktiven Gruppen etwas effektiver.
Was war zuerst da.... das Huhn oder das Ei...?... und warum findet man z.B. vor 1953 (und den Jahrhunderten davor) in den Web-Geschichtsdokumenten nix von Taliban und ISIS?

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Re: Warum schweigen die Lämmer?

Beitrag von MartinV » 21.10.2016 22:01:50

Jana66 hat geschrieben:Stimmt, einige Kriege und Putsche hat der Westen (USA) gewonnen, einschl. Chile und Iran.
Ich rechne auch Länder wie Afghanistan, Irak, Libyen und Syrien zu den erfolgreich zertrümmerten Staaten.
Die Ukraine hat man halb stehenlassen. Zum Putsch in Brasilien gibt es einige Beiträge auf den nachdenkseiten, und die Ereignisse dort fügen sich bestens in die Untatenliste von Janas Wikipedialink.
TomL hat geschrieben:Was war zuerst da.... das Huhn oder das Ei...?... und warum findet man z.B. vor 1953 (und den Jahrhunderten davor) in den Web-Geschichtsdokumenten nix von Taliban und ISIS?
ISIS ist ein Kind des Irakkrieges und ein Enkelkind der USA+England.

Nebst anderen Motiven im Syrienkrieg (Spielwiese, Stellvertreterkrieg, Rußlandpartner schwächen, Bodenschätze, Region destabilisieren, unsere Werte verteidigen) ist die Flüchtlingsbewegung nach Europa nützlich, um die EU zu schwächen. Eine wackelige EU mit Flüchtlingskrise, Währungskrise und Mitgliederaustritt und einem Keil zwischen EU und Rußland geht besser an der Hand der USA als eine selbstsichere, starke EU mit Rußland als gleichwertigem Partner.
ralli hat geschrieben:Nun ja, manchmal gibt es ein wenig Licht im Tunnel, zumindest CETA scheint ja erst Mal abgewendet zu sein. Die belgische Region Wallonie hat sich gegen CETA entschieden, so das der Vertrag nicht ratifiziert werden kann.
Warum denke ich gerade an ein kleines gallisches Dorf? :D
Toml hat geschrieben:Ich habe gesten abend beim kurzen reinzappen in die ZDF-Illner-Gesprächsprächsrunde zum Thema "Putin" erstmalig den Begriff "Multipolare Weltordnung" gehört und dass eben genau das eines der wesentlichen Interessen von Putin ist - insbesondere seit Russland nach dem Zerfall der Sowjetunion durch die USA als "unbedeutendes mittelasiatisches Land" bezeichnet wurde - was anscheinend für die Russen unerträglich ist.

Dem gegenüber steht natürlich das unbedingte Interesse der USA am Festhalten des Status Quo, also der weitere Fortbestand der bestehenden "Unipolaren Weltordnug", in der sich selbstverständlich die USA als Herrscherhaus resp. als führende Weltmacht sehen. "Herrscherhaus" habe ich jetzt hinzugefügt, weil ich immer öfter denke, dass das, was in der Welt passiert und meist durch die USA losgetreten wurde, eigentlich nicht von uns europäischen Bürgern mitgetragen würde.... zumindest kann ich mir das nicht vorstellen, dass die große Masse der EU-Bürger dem zustimmen würde, wenn allen die Wahrheit bewusst wäre.
Danke für diesen Beitrag! "Multipolare Weltordnung" klingt weitaus hoffnungsvoller und demokratischer als der Führungsanspruch der USA.
TomL hat geschrieben:Im Moment glaube ich, die Russen mit Sanktionen zu belegen ist der falsche Weg. Vielleicht sollte wir uns lieber ohne die USA dem anderen Bündnis anschließen, damit nicht wir "Europa" letztendlich auf nem Schutt-Haufen liegen.
Meine volle Zustimmung! Ich denke oft, unsere Politiker haben Angst vor den Folgen - wer nicht für und mit den USA ist, ist gegen sie. Von den USA als Gegner gesehen zu werden ist gefährlich.
Zuletzt geändert von MartinV am 21.10.2016 23:44:24, insgesamt 1-mal geändert.
Die Vernunft kann einem schon leidtun. Sie verliert eigentlich immer.

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Re: Warum schweigen die Lämmer?

Beitrag von TomL » 21.10.2016 22:30:17

MartinV hat geschrieben:
TomL hat geschrieben:Was war zuerst da.... das Huhn oder das Ei...?... und warum findet man z.B. vor 1953 (und den Jahrhunderten davor) in den Web-Geschichtsdokumenten nix von Taliban und ISIS?
ISIS ist ein Kind des Irakkrieges und ein Enkelkind der USA+England.
Ich glaube, dass dieses Kind im Jahr 1953 von den USA gezeugt wurde. Mit der zunächst ersten Konsequenz einer neuen radikalislamischen Führung. Das Kind "islamistischer Terror" ist durch diese Zusammenhänge ein paar Jahre später geboren worden. ISIS ist nun nur kein Kind mehr.

So war bisher mein Verständnis der Zusammenhänge. :roll:

Die Bundeswehr hat zwar nicht ursächlich und aktiv die Flüchtlinge produziert, aber die BRD gehört imho nun mal mit den zu den Profiteuren der durch die Amerikaner geführten westlichen Geopolitik. Wir liefern Waffen und beteiligen uns damit an der Zerstörung. Wir profitieren wohl auch vom Wiederaufbau dessen, was zuvor mit unserer Beteiligung zerstört wurde. Ich denke schon, dass unsere Politik mitverantwortlich ist und ein relevanter Faktor bei den Fluchtursachen ist - aber natürlich nicht die Bundeswehr "as himself".
MartinV hat geschrieben:Ich denke oft, unsere Politiker haben Angst vor den Folgen - wer nicht für und mit den USA ist, ist gegen sie. Von den USA als Gegner gesehen zu werden ist gefährlich.
Ja, aber selbst bei größter Überheblichkeit und dem obligatorischem Größenwahn muss ihnen klar sein, dass sie nicht gegen ein einiges Europa und gleichzeitig auch noch gegen Russland und China und Indien bestehen können. Wenn's dann doch passiert, dann explodiert der Planet.... oder wird vollständig desinfiziert......

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Re: Warum schweigen die Lämmer?

Beitrag von ralli » 22.10.2016 07:17:32

hikaru hat geschrieben:Ich bezweifle sowohl die Stabilität unserer demokratischen Grundordnung, als auch die Verlässlichkeit unsere Rechtssystems.
Aktuellstes Beispiel: Die heute anstehende Legalisierung bisher illlegal durchgeführter Inlandsüberwachung des BND durch den Bundestag.
Ach @hikaru, Du solltest mal die Mitte wählen und nicht andauernd eine extreme Haltung einnehmen. Meine Aussagen bezüglich der Stabilität unserer Demokratie sowie der Rechtssicherheit sind natürlich auch relativ und nicht absolut zu sehen. Ohne diese Sicht der Verhältnismäßigkeit werden wir tatsächlich zu Rosinenpickern oder Erbsenzählern. Aber dieses Verhalten beobachte ich schon jahrelang. Es wird alle Energie darauf verwendet (und auch verschwendet), das Haar in der Suppe zu finden. Ausnahmen von der Regel finden sich immer, wie wir im Fall Mollath gesehen haben. Und das Politiker in Ihrem Kampf um Einfluß und Macht regelmäßig versuchen, unsere Verfassung auszuhebeln, ist auch hinlänglich bekannt. Aber mit welchem Erfolg eigentlich? Unser ehemaliger Bundesjustizminister Gerhard Baum hat vor dem Bundesverfassungsgericht viele Siege errungen. Und das Thema Inlandsüberwachung ist auch noch nicht ganz durch. Da wird sich auch noch Widerstand regen. Nicht alle Lämmer schweigen. Aber wenn Gehard Baum überhaupt als Lamm zu bezeichnen wäre, dann ist es eher ein schwarzes Schaf. Zumindest in der Sicht derjenigen, denen er immer wieder in die Suppe spuckt.

Das unser Staat Altersarmut fördert, um die Rentner zu einem regelkonformen Verhalten zu zwingen, halte ich für eine sehr gewagte Theorie.

Und das Konzerne sich arm rechnen können und das auch ausnutzen ist Fakt, wie wir am Beispiel Apple unlängst wieder gesehen haben.
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Re: Warum schweigen die Lämmer?

Beitrag von ralli » 22.10.2016 07:46:23

Thomas, den Beitrag über die multipolare Weltordnung kannte ich bereits, er ist ja auch schon älter. Trotzdem danke für den Link, das ganze Mal aufzufrischen und wieder ins Bewußtsein zu rücken, ist ja nicht verkehrt. Zum Thema BRICKS Staaaten kann ich nur sagen, das die weiter aufholen werden. Und so länger ich darüber nachdenke, finde ich das als Gegengewicht zu dem Hegemonialstreben der USA durchaus eine gute Sache. Das die USA auch einen Wirtschaftskrieg gegen Europa führen ist doch sonnenklar und dürfte niemanden wirklich entgangen sein. Das Pendel der Uhr schlägt nicht nur nach einer Seite. Und wo machtpolitische Gewalt ausgeübt wird, wird sich immer Widerstand bilden. Meine Prognose ist die, das die USA langfristig keine Supermacht mehr bleiben. Und die Atomwaffen haben uns bis heute den Status Quo erhalten. Auch der Iran will doch nur deshalb Atomwaffen, weil damit sichergestellt würde, das Sie nicht angegriffen werden und nicht deshalb, um andere Staaten (wie Israel) anzugreifen, was ja auch Selbstmord wäre.
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hikaru
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Re: Warum schweigen die Lämmer?

Beitrag von hikaru » 24.10.2016 00:56:17

ralli hat geschrieben:
hikaru hat geschrieben:Ich bezweifle sowohl die Stabilität unserer demokratischen Grundordnung, als auch die Verlässlichkeit unsere Rechtssystems.
Aktuellstes Beispiel: Die heute anstehende Legalisierung bisher illlegal durchgeführter Inlandsüberwachung des BND durch den Bundestag.
Ach @hikaru, Du solltest mal die Mitte wählen und nicht andauernd eine extreme Haltung einnehmen.
Die Mitte wovon?
Entweder hat der BND bisher illegal die Privatsphäre von Bundesbügern verletzt (mMn ein Verstoß gegen GG Art. 10 & 13, möglicherweise auch Art. 1) oder nicht. Und entweder hat das Parlament diese Grundrechtsverletzungen am Freitag nachträglich legitimiert oder nicht.
Ich sehe da keinen möglichen Mittelweg. Entweder bin ich für den Schutz meiner und deiner Grundrechte oder ich bin nicht dafür. Und ich bin nun mal extrem dafür.
ralli hat geschrieben:Meine Aussagen bezüglich der Stabilität unserer Demokratie sowie der Rechtssicherheit sind natürlich auch relativ und nicht absolut zu sehen.
Sorry, auf sowas lasse ich mich nicht mehr ein.
Relavierungen die damit beginnen, die Zustände in der BRD mit irgendwelchen Bananenrepubliken oder anerkannten Unrechtsregimen zu vergleichen um dann zu dem Schluss zu kommen, dass es uns doch noch relativ gut geht, stehen mir bis zum Hals. Hier in diesem Land läuft einiges gehörig schief*, und zwar unabhängig davon, wie es woanders aussieht.
ralli hat geschrieben:Ohne diese Sicht der Verhältnismäßigkeit werden wir tatsächlich zu Rosinenpickern oder Erbsenzählern.
Nein! Die werden wir, indem wir uns an noch schlechteren Beispielen messen und dann im Vergleich nur noch die Rosinen sehen, die es bei uns tatsächlich gibt, aber die eben nicht das ganze Bild ergeben.
ralli hat geschrieben:Ausnahmen von der Regel finden sich immer, wie wir im Fall Mollath gesehen haben. Und das Politiker in Ihrem Kampf um Einfluß und Macht regelmäßig versuchen, unsere Verfassung auszuhebeln, ist auch hinlänglich bekannt. Aber mit welchem Erfolg eigentlich? Unser ehemaliger Bundesjustizminister Gerhard Baum hat vor dem Bundesverfassungsgericht viele Siege errungen. Und das Thema Inlandsüberwachung ist auch noch nicht ganz durch.
Es mag an der späten Stunde liegen, aber ich ringe gerade mit meiner Fassung, wenn ich diese Zeilen von dir lese, den ich als prinzipientreuen Zeitgenossen schätze!
Wie kannst du die politischen Umstände verteidigen (nichts anderes ist eine Relativierung), wenn du selbst regelmäßige Versuche (also keine Einzelfälle) unserer Politiker, die Verfassung auszuhebeln beobachtest, oder wenn es dich beruhigt, dass das Thema Inlandsüberwachung noch nicht ganz durch ist?
ralli hat geschrieben:Da wird sich auch noch Widerstand regen. Nicht alle Lämmer schweigen.
Und er wird wieder im Sande verlaufen - wenn nicht jetzt, dann beim nächsten oder übernächsten Versuch.
Gestern Abend lief übrigens mal wieder Cizitenfour im Fernsehen. [1] Der Film ist von 2013 und passiert ist seit den Snowden-Enthüllungen außer ein bisschen Empörung hier und da nichts Zählbares. Das Muster ist konsistent.
ralli hat geschrieben:Das unser Staat Altersarmut fördert, um die Rentner zu einem regelkonformen Verhalten zu zwingen, halte ich für eine sehr gewagte Theorie.
Ich denke auch nicht, dass es eine (un)erklärte Absicht gibt, durch Förderung der Altersarmut Abhängigkeit und darauf aufbauend Systemkonformität zu erzwingen, falls du das meinst.
Aber ich bin mir sicher, dass man über diesen Nebeneffekt in den Parteikreisen schon mal nachgedacht hat und dass man ihn zumindest gleichgültig hinnimmt. Und irgendwann werden Begehrlichkeiten entstehen. Warum sollte es bei der Alterssicherung anders aussehen, als bei anderen Sozialleistungen?
Vielleicht hast du Recht und es kommt nicht dazu. Ich hoffe es! Aber wenn du doch irgendwann mal vor irgendeinem Agenturmitarbeiter die Hosen runterlassen musst um über den Monat zu kommen weil deine Rente nicht mehr reicht, dann kannst du jetzt zumindest nicht mehr behaupten, du hättest nichts geahnt!


*) oder auch nicht - je nachdem ob man demokratisch-rechtsstaatliche Maßstäbe anlegt, oder menschlich-Machthungrige.
[1] http://www.phoenix.de/content/phoenix/d ... en/1160077

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ralli
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Re: Warum schweigen die Lämmer?

Beitrag von ralli » 24.10.2016 08:11:51

@hikaru, Du hast eine seltene Gabe, mir jedes Wort im Munde umzudrehen, auch dann, wenn es völlig ersichtlich ist, was und wie ich es meinte. Du willst mich einfach nicht verstehen, warum auch immer. Bei Dir habe ich immer das Gefühl, ich muß mich rechtfertigen oder irgendetwas richtig stellen, was ich so, wie Du es interpretierst, niemals geschrieben, geschweige denn gemeint habe.

Ich bin nicht harmoniesüchtig und rede Defizite und Zustände, die reformbedürftig sind, schön. Nur wenige haben sich zu unserem Gesellschaftscharakter so umfangreich und regelmäßig positioniert und geäußert als ich.

Hier wurde ich mal angegangen, auf welcher Seite ich stehe.....

Immer auf der Seite der Entrechteten und der Schwächeren.

Auch dieses ist eine Schande für unser Land:

http://www.tagesschau.de/inland/hartz-131.html

Ein geistig/seelisch gesunder Mensch kann ja nicht ernsthaft die Methoden billigen, die die Privatsphäre eines jeden Einzelnen aufzeichnet, durchleuchtet und daraus ein Profil erstellt.

Aber genau das dulden Millionen von Menschen bei Facebook.

Für mich ist meine Privatsphäre heilig und damit mit der Unantastbareit der Menschenwürde gleich gestellt. Wer sich dagegen vergeht, ist schlichtweg kriminell.

Aber Dir bleibt ja auch der Rechtsweg offen .....

Und das unterscheidet uns nämlich schon von Unrechts- oder "Bananenstaaten".

Ich denke schon, das die allermeisten Menschen ein gesundes Rechtsempfinden haben und ganz genau wissen, was richtig und falsch ist.

Und zwar auch ohne unsere Besserwisserei.

ralli, nach Diktat verreist....
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Luxuslurch
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Re: Warum schweigen die Lämmer?

Beitrag von Luxuslurch » 25.10.2016 13:18:27

ralli hat geschrieben:Hier wurde ich mal angegangen, auf welcher Seite ich stehe.....
Immer auf der Seite der Entrechteten und der Schwächeren.
Ich kann dir Dutzende Beispiele nennen, wo du das eben nicht so genau unterscheiden kannst. Durch den Willen, unbedingt ("immer") auf der richtigen Seite zu stehen, wirst du zwangsläufig schwanken müssen. Auf welchen Standpunkt soll man dich also festnageln?
Auch das hier finde ich schwieriger zu beurteilen als du
ralli hat geschrieben:Auch dieses ist eine Schande für unser Land:
http://www.tagesschau.de/inland/hartz-131.html
Warum sollte jemand Sozialhilfe bekommen, der über genügend eigenes Vermögen verfügt? Das ist auch nicht gerecht. Wer dabei falsche Angaben macht, weiß genau, dass er sich Sozialleistungen auf Kosten aller anderen erschleicht. Da darf man ruhig über Strafen reden.
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Re: Warum schweigen die Lämmer?

Beitrag von spiralnebelverdreher » 26.10.2016 22:38:03

Warum schweigen die Lämmer?
Darüber wird hier schon lange und teils tiefgründig diskutiert und es wurden viele Gründe für das Schweigen gesucht und aufgezeigt. Wie kann das Schweigen aber gebrochen werden? Ich möchte dazu - statt eines eigene Beitrages - auf die Dankesrede der diesjährigen Preisträgerin des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels verlinken http://www.friedenspreis-des-deutschen- ... e/1244997/, in der Frau Emcke am Schluss ihrer Rede auf die Frage "Was wir tun können?" eingeht und ausführt:

"Wir dürfen uns nicht wehrlos und sprachlos machen lassen. Wir können sprechen und handeln. Wir können die Verantwortung auf uns nehmen. Und das heißt: Wir können sprechend und handelnd eingreifen in diese sich zunehmend verrohende Welt.
...
Freiheit ist nichts, das man besitzt, sondern etwas, das man tut.
Säkularisierung ist kein fertiges Ding, sondern ein unabgeschlossenes Projekt.
Demokratie ist keine statische Gewissheit, sondern eine dynamische Übung im Umgang mit Ungewissheiten und Kritik."


Aber lest selbst. Menschen mit wenig Zeit zum Lesen können zur Not auch in Abschnitt III anfangen.

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hikaru
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Re: Warum schweigen die Lämmer?

Beitrag von hikaru » 27.10.2016 00:39:34

spiralnebelverdreher hat geschrieben:Aber lest selbst. Menschen mit wenig Zeit zum Lesen können zur Not auch in Abschnitt III anfangen.
Nein, bitte nicht in Abschnitt 3 anfangen! Abschnitt 1 ist nur Einleitung, kann also übersprungen werden. Und auch wenn Vieles von dem Zugehörigkeitszeug in Abschnitt 2 reines Geschwurbel ist, so ist doch der Schluss des Abschnitts äußerst wichtig, einerseits weil er viel über die Weltsicht von Frau Emcke verrät, und andererseits bzw. daraus folgend wichtig für die Interpretation von Abschnitt 3 ist.

Der für mich zentrale Absatz aus Abschnitt 2:
Menschenrechte sind kein Nullsummenspiel. Niemand verliert seine Rechte, wenn sie allen zugesichert werden. Menschenrechte sind voraussetzungslos. Sie können und müssen nicht verdient werden. Es gibt keine Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit jemand als Mensch anerkannt und geschützt wird. Zuneigung oder Abneigung, Zustimmung oder Abscheu zu individuellen Lebensentwürfen, sozialen Praktiken oder religiösen Überzeugungen dürfen keine Rolle spielen. Das ist dochder Kern einer liberalen, offenen, säkularen Gesellschaft.
Hier zeigt sich leider, dass sich Frau Emcke entweder nicht klar ausdrücken kann (was ich bei ihr auschließen möchte), oder dass sie ihr Wunschdenken nicht von der Realität trennen kann.

Um das noch weiter einzudampfen:
Menschenrechte sind voraussetzungslos. Sie können und müssen nicht verdient werden. Es gibt keine Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit jemand als Mensch anerkannt und geschützt wird.
Das ist natürlich Unsinn. Zunächst ist das einzige Recht das existiert das Recht des Stärkeren. Die Menschenrechte die wir heute so schätzen mussten hart verdient werden. Sie mussten dem Recht des Stärkeren in jahrhundertelanger Arbeit abgetrotzt werden. Und sie müssen es noch. Die Bedingung die erfüllt sein muss, damit jemand als Mensch anerkannt und geschützt wird ist die erarbeitete Existenz eines Rechts auf Menschenwürde, und zwar im gelebten Alltag, nicht nur auf dem Papier. Man könnte diesen Zustand auch Kultur oder Zivilisation nennen.
So zu tun als wären die Menschenrechte quasi vom Himmel gefallen, wir müssten sie nur aufsammeln und das einzig Schwierige daran sei das Bücken ist Teil des Problems ihrer Nichtbefolgung, denn diese Sichtweise schmälert sowohl das Bewusstsein für die Werte an sich als auch das für die harte Arbeit die zu ihrer Erreichung geleistet werden musste und konstant geleistet werden muss.

In diesem Licht sieht dann auch Abschnitt 3 ganz anders aus. Den Beobachtungen die Frau Emcke macht stimme ich zu, aber mit ihrem verqueren Blick auf die Stellung der Menschenrechte muss man fast zwangsläufig zu dem Schluss kommen, dass die zivilisatorischen Rückschritte die wir derzeit erleben, eine Entfernung vom Normalzustand des Menschen darstellen. Das ist eben nicht der Fall. Zivilisation ist die arbeitfordende Ausnahme, nicht die sich von selbst ergebende Regel.
Was wir derzeit beobachten ist der Rückfall in den Normalzustand, das Herabrollen der Kugel vom Hügel. Komischerweise klingt gerade das gegen Ende des Abschnitts wieder an:
Freiheit ist nichts, das man besitzt, sondern etwas, das man tut.

Säkularisierung ist kein fertiges Ding, sondern ein unabgeschlossenes Projekt.

Demokratie ist keine statische Gewissheit, sondern eine dynamische Übung im Umgang mit Ungewissheiten und Kritik.

Eine freie, säkulare, demokratische Gesellschaft ist etwas, das wir lernen müssen. Immer wieder.
Ich kann mir diesen Widerspruch nur so erklären, dass sie hin- und hergerissen ist zwischen ihren Beobachtungen der Welt, die zu hart sind um ihnen wirklich in's Gesicht zu sehen, und ihren Wunschträumen, die aber zu unrealistisch sind um wirklich daran zu glauben.

Leider verfällt sie dan ganz am Ende nochmal dem Opium ihrer eigenen Redekunst, vemutlich als rhetorisches Happy Ending ihres Vortrags um die Zuhörer und vielleicht auch sich selbst zufrieden zu entlassen:
Wir können immer wieder anfangen.

Was es dazu braucht?

Nicht viel: etwas Haltung, etwas lachenden Mut und nicht zuletzt die Bereitschaft, die Blickrichtung zu ändern, damit es häufiger geschieht, dass wir alle sagen:

Wow. So sieht es also aus dieser Perspektive aus.
Das ist in seiner Banalität schon fast hollywoodreif und könnte aus einer Schnulze stammen bei der dem Regisseur 10 Minuten vor dem Ende des Films einfällt, dass er ja noch einen schönen Schluss braucht.
Scheiß auf Plotholes! Wir müssen fertig werden.
Dummerweise ist das Leben kein Hollywoodfilm, sonst hätten wir die ganzen Probleme nicht mit denen wir hier in schöner Regelmäßigkeit seitenlange Threads füllen und die anderen Leuten zu Friedenspreisen verschiedenster Arten für literarische Opiate verhelfen.

maroc

Re: Warum schweigen die Lämmer?

Beitrag von maroc » 27.10.2016 02:26:25

hikaru hat geschrieben:Um das noch weiter einzudampfen:
Menschenrechte sind voraussetzungslos. Sie können und müssen nicht verdient werden. Es gibt keine Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit jemand als Mensch anerkannt und geschützt wird.
Das ist natürlich Unsinn. Zunächst ist das einzige Recht das existiert das Recht des Stärkeren. Die Menschenrechte die wir heute so schätzen mussten hart verdient werden. Sie mussten dem Recht des Stärkeren in jahrhundertelanger Arbeit abgetrotzt werden. Und sie müssen es noch. Die Bedingung die erfüllt sein muss, damit jemand als Mensch anerkannt und geschützt wird ist die erarbeitete Existenz eines Rechts auf Menschenwürde, und zwar im gelebten Alltag, nicht nur auf dem Papier. Man könnte diesen Zustand auch Kultur oder Zivilisation nennen.
So zu tun als wären die Menschenrechte quasi vom Himmel gefallen, wir müssten sie nur aufsammeln und das einzig Schwierige daran sei das Bücken ist Teil des Problems ihrer Nichtbefolgung, denn diese Sichtweise schmälert sowohl das Bewusstsein für die Werte an sich als auch das für die harte Arbeit die zu ihrer Erreichung geleistet werden musste und konstant geleistet werden muss.
Gründlicher als Du kann man, scheint mir, Carolin Emcke kaum mißverstehen. Wenn sie darauf insistiert, daß Menschenrechte "voraussetzungslos" sind, zielt sie damit auf die Universalität ab, wie sie untrennbar mit der Idee der Menschenrechte verbunden ist. Menschenrechte gelten (anders als manche andere Rechte) unterschiedslos für alle Menschen – für Kinder, Alte, Behinderte, Angehörige ethnischer Minderheiten, Kriminelle, Terroristen, politische Abweichler, Homosexuelle etc. Der Anspruch eines Menschen auf Respektierung seiner Menschenrechte darf quasi per definitionem nicht von Voraussetzungen, also der Erfüllung irgendwelcher Bedingungen abhängig gemacht werden. -- Vielleicht ist Dir, der Du einer eher relativistischen Ethik anhängst, ein solcher Universalismus ja irgendwie fremd?

Daß Emcke die Menschenrechte als normative Setzung und nicht als Beschreibung eines Ist-Zustandes begreift (was trivialerweise für alle Rechte oder Gesetze gilt) – daran dürfte nach Lektüre der Rede doch eigentlich kein Zweifel bestehen. Sie betont vielmehr ausdrücklich, und hier zitierst Du sie ja teilweise sogar, daß Freiheit, Demokratie, Menschenrechte und Säkularisierung ein "unabgeschlossenes Projekt" darstellen, dessen weitere Verwirklichung unseres Tuns bedarf, unseres Mutes, unseres Lernens, unserer Mühe.
hikaru hat geschrieben:Ich kann mir diesen Widerspruch nur so erklären, dass sie hin- und hergerissen ist zwischen ihren Beobachtungen der Welt, die zu hart sind um ihnen wirklich in's Gesicht zu sehen, und ihren Wunschträumen, die aber zu unrealistisch sind um wirklich daran zu glauben.
Zwischen Ideal und Realität besteht kein Widerspruch, wohl aber eine Differenz oder eine Spannung. Soll man deshalb auf Ideale ("Wunschträume") verzichten? Nein, weil Ideale überhaupt erst Ziele vorgeben für eine andere, eine bessere Welt.

BenutzerGa4gooPh

Re: Warum schweigen die Lämmer?

Beitrag von BenutzerGa4gooPh » 27.10.2016 10:44:47

Ich werde heute Abend den Text lesen und vor allem Wert auf konkrete, plausible und realisierbare Lösungsvorschläge, Verbesserungsideen legen. Wie man/frau zu denen kommt, ist doch recht egal. Viele Wege führen nach Rom, Philosophen gehen vlt. auf anderen als Literaten. Das Ankommen in Rom in endlicher Zeit ist wichtig. :wink:

Edit:
Philosophen und Literaten gehen selten Wege, schlagen diese jedoch direkt oder indirekt vor. Wege gehen dann Revolutionäre, in- und ausländisches Militär, die Legislative und die Exekutive. Gibt halt unterschiedliche Berufe. Nicht alle Wege und Ziele gefallen allgemein oder wurden von Erstgenannten vorgeschlagen.

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Re: Warum schweigen die Lämmer?

Beitrag von hikaru » 27.10.2016 11:32:46

maroc hat geschrieben:Daß Emcke die Menschenrechte als normative Setzung und nicht als Beschreibung eines Ist-Zustandes begreift (was trivialerweise für alle Rechte oder Gesetze gilt) – daran dürfte nach Lektüre der Rede doch eigentlich kein Zweifel bestehen.
Ich glaube, sie macht die Unterscheidung nicht. Zumindest macht sie die in ihrer Rede nicht. Und genau das ist es, was ich jemandem der schon rein beruflich so sprachbewandt ist wie sie zum Vorwurf mache. Bei ihrer Rede habe ich tatsächlich den Eindruck, als seien die Menschenrechte einfach irgendwann vom Himmel gefallen und unser Kampf um sie dreht sich nur darum sie zu behalten, nicht aber darum, sie Tag für Tag neu zu erkämpfen.
Das haben normative Setzungen so an sich. Sie erklären nicht woher die Norm kommt, also können sie aus sich selbst heraus auch nicht ihren Wert erklären. Ohne diese Begründung wird aber jede Argumentation die auf den Normen aufbaut beliebig und damit bedeutungslos sobald die Norm angegriffen wird. Es ist im Grunde das Gegenstück zu Axiomen in den Naturwissenschaften.

Unabhängig davon gibt es durchaus Rechte, die sich als Beschreibung eines Ist-Zustandes ergeben können, der Umkehrschluss ist also nicht trivial. Das Recht des Stärkeren ergibt sich ohne Zutun bzw. Auflehnung dagegen ganz von allein.
maroc hat geschrieben:Zwischen Ideal und Realität besteht kein Widerspruch, wohl aber eine Differenz oder eine Spannung. Soll man deshalb auf Ideale ("Wunschträume") verzichten? Nein, weil Ideale überhaupt erst Ziele vorgeben für eine andere, eine bessere Welt.
Man sollte aber in der Lage sein, Ideal und Realität sauber zu unterscheiden. Genau das tut Frau Emcke nicht, denn sie setzt ihre Ideale einfach als Realität der zu befolgenden Normen voraus.
Vielleicht hat die Herleitung der Normen einfach zeitlich nicht in ihren Vortrag gepasst, aber dann hätte sie besser auf das langatmige Zusammengehörigkeitsgeschwurbel verzichten sollen als darauf klarzumachen, dass Menschenrechte eben keine Normen sind sondern in einem gesellschaftlichen Prozess überhaupt erstmal erkämpft werden mussten und müssen.

Jana66 hat geschrieben:Ich werde heute Abend den Text lesen und vor allem Wert auf konkrete, plausible und realisierbare Lösungsvorschläge, Verbesserungsideen legen.
Du wirst keine finden. Es ist am Ende eben doch nur eine Wohlfühlrede ohne schlagkräftigen Inhalt.

maroc

Re: Warum schweigen die Lämmer?

Beitrag von maroc » 27.10.2016 13:48:14

hikaru hat geschrieben:Das haben normative Setzungen so an sich. Sie erklären nicht woher die Norm kommt, also können sie aus sich selbst heraus auch nicht ihren Wert erklären.
[...]
Vielleicht hat die Herleitung der Normen einfach zeitlich nicht in ihren Vortrag gepasst, aber dann hätte sie besser auf das langatmige Zusammengehörigkeitsgeschwurbel verzichten sollen als darauf klarzumachen, dass Menschenrechte eben keine Normen sind sondern in einem gesellschaftlichen Prozess überhaupt erstmal erkämpft werden mussten und müssen.
Die historische Dimension des Themas spart Carolin Emcke aus, aber eine auch nur kursorische Enstehungsgeschichte der Menschenrechte darf von einer solchen Dankesrede wohl auch nicht erwartet werden. Hingegen gebe ich Dir durchaus recht, daß eine philosophisch substantiellere Herleitung oder Begründung der Menschenrechte Emckes Rede sicher gut angestanden und noch mehr Tiefenschärfe verliehen hätte. Trotzdem hatte ich anders als Du an keiner Stelle den Eindruck, daß die Rednerin suggerierte, die Menschenrechte seien "vom Himmel gefallen"; vielmehr verliert sie eindeutige Worte dazu, daß ihnen unsere ganze Mühe und unser Engagement gelten muß. Manchmal mögen diese Worte etwas blumig daherkommen, sie als "Geschwurbel" abzutun erscheint mir jedoch ungerecht. Wir müssen wohl akzeptieren, daß von verschiedenen Rezipienten der gleiche Text oft unterschiedlich gelesen, interpretiert und bewertet wird.
hikaru hat geschrieben:Unabhängig davon gibt es durchaus Rechte, die sich als Beschreibung eines Ist-Zustandes ergeben können, der Umkehrschluss ist also nicht trivial. Das Recht des Stärkeren ergibt sich ohne Zutun bzw. Auflehnung dagegen ganz von allein.
Das ist sicher ein bedenkenswerter Einwand. Punkt an Dich. :wink:
hikaru hat geschrieben:
Jana66 hat geschrieben:Ich werde heute Abend den Text lesen und vor allem Wert auf konkrete, plausible und realisierbare Lösungsvorschläge, Verbesserungsideen legen.
Du wirst keine finden. Es ist am Ende eben doch nur eine Wohlfühlrede ohne schlagkräftigen Inhalt.
Auch Mausfeld bietet übrigens keine wirklichen Lösungsvorschläge, von einem eher fragwürdigen Aufruf zur Medienabstinenz mal abgesehen. Apropos "Wohlfühlrede": Kann manchmal nicht schon das Beschwören eines Traums beim Hörer/Leser Energien freisetzen, sich für eine bessere Welt einzusetzen? Ein Beispiel hierfür wäre Martin Luther Kings berühmte Rede I Have a Dream von 1963. Sie zeigte keine praktischen Wege oder gar Strategien auf, vermochte aber gleichwohl mit ihrer genialen, ungeheuer bildkräftigen Rhetorik jahrzehntelang Menschen aufzurütteln und darf im Rückblick als eine wichtige Initialzündung der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung gelten. Diese emotionale Rede machte eine nüchterne Diskussion der Strategien natürlich nicht überflüssig, und King war nicht so naiv, daß er sich an anderer Stelle nicht auch dazu Gedanken gemacht hätte.

Vielleicht kann ja gelegentlich ein wenig Zuversicht (nicht Blauäugigkeit) mehr bewegen als ein ununterbrochen alarmistischer und verbitterter Pessimismus, der überall nur die abgrundtiefe Schlechtigkeit von Politikern, Eliten und Medien wittert 8O . Da möchte ich sogar Angela Merkel gegen die Häme verteidigen, die sie für ihren Satz "Wir schaffen das" einstecken musste (ein Satz, der, wenn man so will, in einer Traditionslinie mit Obamas ungleich pathetischerem "Yes, we can" steht).

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Re: Warum schweigen die Lämmer?

Beitrag von ralli » 27.10.2016 16:30:24

Hier könnt Ihre Euch ein Bild machen von der Preisverleihung .....

http://www.youtube.com/watch?v=CRkf6k7CYXI
Wer nicht lieben kann, muß hassen. Wer nicht aufbauen kann muß zerstören. Wer keine Brücken baut, muß spalten.

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Re: Warum schweigen die Lämmer?

Beitrag von ralli » 27.10.2016 16:51:21

@spiralnebelverdreher danke für den Link!

Carolin Emcke ist für mich eine mutige und couragierte Frau und Journalistin. Sie zeigt Flagge und übt Zivilcourage in einer Zeit voller Hass und Intoleranz. Sie ist eine integre Persönlichkeit, deren Arbeit und Bemühungen für eine Gesellschaft mit menschlichem Antlitz, Toleranz und Menschenwürde vorbildlich ist. Wer Ihre Rede oder Teile davon als Geschwurbel bezeichnet, disqualifiziert sich selbst. Mein Anstand verbietet es mir, noch deutlicher zu werden...

Sie ist wie Prof. Dr. Mausfeld kein schweigendes Lamm und zeigt uns, das es sich lohnt, für diese Ziele einzustehen.

Wen es interessiert, was Sie bereits geleistet hat:

https://de.wikipedia.org/wiki/Carolin_Emcke

Erst lesen, denken und sich dann eine Meinung bilden...

PS: Im übrigen werde ich mich an einer intellektuellen Leichenfledderei der Rede von Carolin Emcke nicht beteiligen.
Wer nicht lieben kann, muß hassen. Wer nicht aufbauen kann muß zerstören. Wer keine Brücken baut, muß spalten.

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Re: Warum schweigen die Lämmer?

Beitrag von hikaru » 27.10.2016 17:52:16

maroc hat geschrieben:eine auch nur kursorische Enstehungsgeschichte der Menschenrechte darf von einer solchen Dankesrede wohl auch nicht erwartet werden.
Warum nicht? Vielleicht hätten schon zwei bis drei Sätze gereicht:
Was ist die Grundidee von Menschenrechten? Warum war/ist diese Idee für unsere Gesellschaft so wichtig? Und wie hat man sie erreicht (wenn man sie erreicht hat)?
maroc hat geschrieben:Trotzdem hatte ich anders als Du an keiner Stelle den Eindruck, daß die Rednerin suggerierte, die Menschenrechte seien "vom Himmel gefallen"; vielmehr verliert sie eindeutige Worte dazu, daß ihnen unsere ganze Mühe und unser Engagement gelten muß.
Sie vermittelt mir nicht den Eindruck, als seien die Menschenrechte nicht vom Himmel gefallen. Gemäß Ockhams Rasiermeser wäre das aber die einfachste und damit plausibelste Erklärung ihres Zustandekommens. Die ganzen Worte zu unserem Engagement gelten nur der Erhaltung der Menschenrechte, nicht ihrer Errichtung.
maroc hat geschrieben:Auch Mausfeld bietet übrigens keine wirklichen Lösungsvorschläge, von einem eher fragwürdigen Aufruf zur Medienabstinenz mal abgesehen.
Mausfeld erhebt gar nicht den Anspruch, gesellschaftlich wirksame Lösungen anzubieten. Sein Aufruf zur kritischen Medienbetrachtung ist an Einzelpersonen gerichtet, ohne daraus irgendwelche gesellschaftlichen Effekte ableiten zu wollen.
maroc hat geschrieben:Apropos "Wohlfühlrede": Kann manchmal nicht schon das Beschwören eines Traums beim Hörer/Leser Energien freisetzen, sich für eine bessere Welt einzusetzen? Ein Beispiel hierfür wäre Martin Luther Kings berühmte Rede I Have a Dream von 1963. Sie zeigte keine praktischen Wege oder gar Strategien auf, vermochte aber gleichwohl mit ihrer genialen, ungeheuer bildkräftigen Rhetorik jahrzehntelang Menschen aufzurütteln und darf im Rückblick als eine wichtige Initialzündung der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung gelten.
Ich vermisse nach über 50 Jahren (inklusive 8 Jahren "schwarzer US-Präsidentschaft") die zählbaren Erfolge. Nach allem was ich aufgeschnappt habe (ich kenne keine Afro-Amerikaner persönlich), scheint mir die Situation nach wie vor reichlich stigmenbehaftet.
King könnte heute die selbe Rede nochmal halten, und sie wäre kein bisschen überholt.
maroc hat geschrieben:Vielleicht kann ja gelegentlich ein wenig Zuversicht (nicht Blauäugigkeit) mehr bewegen als ein ununterbrochen alarmistischer und verbitterter Pessimismus, der überall nur die abgrundtiefe Schlechtigkeit von Politikern, Eliten und Medien wittert 8O .
Pessimus? Bei mir? Mit Hinblick auf politische Veränderung mit Sicherheit. Verbitterung? Vielleicht. Ich hoffe aber, über das Stadium hinaus zu sein. Alarmismus? Nein, sicher nicht. Falls das bei dir anders ankommt, muss ich an meiner Ausdrucksweise feilen.
Was auch immer mein momentaner politischer Seelenzustand ist, eines habe ich bestimmt nicht: Einen Drang etwas zu bewegen. Ich sehe keine Schlechtigkeit von irgendwem die es zu überwinden gäbe. Was du als "Schlechtigkeit" bezeichnest ist in meinen Augen einfach ein ganz normaler Teil der menschlichen Psyche, genau wie die "Güte" einem Menschen in Not zu helfen. Politische Systeme funktionieren einfach nach bestimmten Grundregeln, und diese Regeln lassen nun mal eher wenig Platz für Altruismus sondern eher für Narzismus.
Wer politische Veränderungen "zum Besseren" (also im Sinne der politisch Machtlosen) will, der muss sich mMn dieser Wirkmechanismen bewusst sein und ein System entwerfen, das Narzismus bestraft und Altruismus belohnt, und zwar von Grund auf, nicht auf Basis zu befolgender Gesetze die immer Schlupflöcher bieten werden. Mir fällt dazu nichts ein und ich habe auch von noch keinem anderen etwas Überzeugendes gehört.

ralli hat geschrieben:Wer Ihre Rede oder Teile davon als Geschwurbel bezeichnet, disqualifiziert sich selbst.
Dann verrate doch bitte mal, was ich als Quintessenz aus den Passagen hätte mitnehmen sollen die sich immer und immer wieder um die Worte "zugehören" und "angehören" drehen!
Und was macht die Passagen in dieser Länge dann so wichtig, das man dafür eine klare Position zur Herkunft der Menschenrechte völlig ausblenden kann?
ralli hat geschrieben:Mein Anstand verbietet es mir, noch deutlicher zu werden...
Du brauchst nicht deutlicher werden. Es ist klar ersichtlich, dass du mich meinst. Dass du mich (nicht ich mich selbst) wegen dieser Ansicht disqualifizierst ist nicht mein Fehler. Es zeugt lediglich von deiner mangelnden Toleranz gegenüber abweichenden Meinungen.
Du musst meine Meinung nicht teilen, aber wärest du wahrlich tolerant, dann könntest du sie akzeptieren, vielleicht sogar respektieren, ohne dass dadurch mein Ansehen bei dir beschädigt würde, denn ich tue mit meiner Meinung weder dir noch einem anderen ein Leid an.
ralli hat geschrieben:Sie ist wie Prof. Dr. Mausfeld kein schweigendes Lamm und zeigt uns, das es sich lohnt, für diese Ziele einzustehen.
Sie bietet aber im Gegensatz zu Mausfeld Lösungen an, untaugliche Lösungen:
Was es dazu braucht?

Nicht viel: etwas Haltung, etwas lachenden Mut und nicht zuletzt die Bereitschaft, die Blickrichtung zu ändern
Wenn es so einfach wäre, dann hätten wir unsere Probleme nicht. Frau Emcke verkauft zumindest in dieser Rede Strohhalme. Und ich bin der Meinung, dass es der Sache der Verteidigung der Menschenrechte nicht nur nicht nützt sondern schadet, solche Platitüden als Lösungsvorschläge zu bringen.

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Re: Warum schweigen die Lämmer?

Beitrag von ralli » 27.10.2016 20:14:29

@hikaru, es wäre schön, wenn Du die Erwartungen, die Du an Andere hinsichtlich der Toleranz und des Respektes stellst, Deinen Mitmenschen auch entgegen bringen würdest.

Du betreibst Haarspalterei und legst jedes Wort auf die Goldwaage. Es ist Dein Perfektionismus, der sich in jedem Satz und jedem Wort offenbart. Das alles meine ich nicht böse. Denk mal bitte mal darüber nach.

Oder bist Du einfach ein Opfer Deiner Erwartungen? Was bitte sehr erwartest Du von solch einer Rede vor solch einem Publikum?

Du hast doch kein Alzheimer, dann solltest Du auch nicht vergessen haben, das ich Dir oft, sehr oft meine Wertschätzung zum Ausdruck brachte.

Sollten wir hier wirklich eine Debatte über Respekt führen? Sehr gerne. Meineserachtens ist es wichtig, der Lebensleistung anderer Menschen Respekt zu zollen.

Das erwarte ich selber nicht persönlich von Dir, was meine eigene Person angeht, denn dafür kennst Du mich zu wenig. Aber das gilt schon für Prof. Dr. Mausfeld sowie der diesjährigen Preisträgerin Carolin Emcke.

Du läßt einfach kein gutes Haar an anderen Menschen und suchst andauernd das Haar in der Suppe. Ist das der Zeitgeist oder besser der Ungeist, der sich in dieser andauernden Nörgelei, entschuldige bitte den verbalen Spagat, ausdrücken will? Bist Du unzufrieden und kompensierst das?

Und ich werde nicht der einzige hier sein, dem das Wort "Geschwurbel" sauer aufstößt.

Ist diese verbale Entgleisung Deine Art von Respekt, die Du anderen entgegenbringst?

Ich hoffe nicht, denn ich habe Dich anders kennen gelernt. Verletzt habe ich Dich ebenfalls nicht. Das sähe dann ganz anders aus, da sei Dir ganz sicher.

Entspann Dich mal, ich spüre hier sehr viel Toleranz und niemand hat es in diesem Thread bisher an Respekt vor Andersdenkenden oder der Meinung Anderer mangeln lassen. Das ist nicht nur eine Sache des guten Geschmackes, sondern von Takt und Anstand, und auch eine Sache des Charakter.
Wer nicht lieben kann, muß hassen. Wer nicht aufbauen kann muß zerstören. Wer keine Brücken baut, muß spalten.

maroc

Re: Warum schweigen die Lämmer?

Beitrag von maroc » 27.10.2016 21:25:40

hikaru hat geschrieben:
maroc hat geschrieben:Auch Mausfeld bietet übrigens keine wirklichen Lösungsvorschläge, von einem eher fragwürdigen Aufruf zur Medienabstinenz mal abgesehen.
Mausfeld erhebt gar nicht den Anspruch, gesellschaftlich wirksame Lösungen anzubieten. Sein Aufruf zur kritischen Medienbetrachtung ist an Einzelpersonen gerichtet, ohne daraus irgendwelche gesellschaftlichen Effekte ableiten zu wollen.
So recht will es mir nicht einleuchten, warum Du von Emckes Rede (oder auch von der Rede Martin Luther Kings?) handfeste politische "Lösungen" bzw. einen messbaren gesellschaftlichen Effekt einforderst, Mausfeld aber von einem solch strengen Maßstab ausnimmst. Woraus schließt Du überhaupt, daß Mausfeld keinen Anspruch auf gesellschaftliche Wirksamkeit erhebt, Emcke jedoch schon?

Vielleicht ist eine andere Passage aus Deinem Beitrag geeignet, den Unterschied unserer beider Sichtweisen zu verdeutlichen:
hikaru hat geschrieben:Politische Systeme funktionieren einfach nach bestimmten Grundregeln, und diese Regeln lassen nun mal eher wenig Platz für Altruismus sondern eher für Narzismus.
Wer politische Veränderungen "zum Besseren" (also im Sinne der politisch Machtlosen) will, der muss sich mMn dieser Wirkmechanismen bewusst sein und ein System entwerfen, das Narzismus bestraft und Altruismus belohnt, und zwar von Grund auf, nicht auf Basis zu befolgender Gesetze die immer Schlupflöcher bieten werden. Mir fällt dazu nichts ein und ich habe auch von noch keinem anderen etwas Überzeugendes gehört.
Ich glaube nicht, daß ein wie auch immer geartetes neues "System" unsere Welt zum Besseren wenden kann – so gut es auch gemeint sein mag oder so wissenschaftlich fundiert es sich auch geriert. Ich schätze viele Deiner Beiträge für ihren analytischen Scharfsinn, frage mich aber, ob Deine "Wissenschaftsgläubigkeit" sich nicht in einer Überbewertung von Systemen und "axiomatisch" fundierten Moralgebäuden niederschlägt. "Systeme" haben sich in der jüngeren Geschichte oft genug als unheilvoll erwiesen.
hikaru hat geschrieben:Frau Emcke verkauft zumindest in dieser Rede Strohhalme. Und ich bin der Meinung, dass es der Sache der Verteidigung der Menschenrechte nicht nur nicht nützt sondern schadet, solche Platitüden als Lösungsvorschläge zu bringen.
Vielleicht stimmt es sogar, daß Emcke manchmal zumindest knapp an Platitüden vorbeischrammt. Was mir an ihrer Rede jedoch gefällt, ist ein sympathisches Understatement, eine persönliche Bescheidenheit, wie sie sich ja bereits im Titel der Rede ausdrückt: "Anfangen" läßt sich als Aufforderung zum tätigen Engagement verstehen, zugleich aber eben auch als ein Eingeständnis der Rednerin, daß sie gerade nicht mit einer weiteren großspurigen und systematisch ausgeklügelten Fertiglösung aufwarten kann/will, sondern nur mit kleinen Ermunterungen zu ersten Schritte. Und ihr Kreisen um die Themen "Angehörigkeit" und "Zugehörigkeit" verweist in meinen Augen auf die Bedeutung von Einfühlungsvermögen und persönlicher Anteilnahme für ein menschliches Miteinander, also auch für unsere Gesellschaft.

Ehrlich gesagt, ist es eine vergleichbare Wärme und Empathie, die ich bei Mausfeld – seines Zeichens immerhin Psychologe – vermisse. Journalisten erscheinen in seiner Rede als bloße Marionetten eines monolithischen Machtkomplexes aus Wirtschaft und Politik. Dabei hätte ihm ein einfühlsamer Blick auf journalistische Arbeitsbedingungen sicher Ansätze für eine respektvollere und differenziertere Betrachtung liefern können. Ich will aber Emcke und Mausfeld nicht weiter gegeneinander ausspielen, beider Reden haben sicher ihre starken und schwachen Seiten. An Mausfeld schätze ich durchaus seine analytische Durchdringung medialer Wirkungsmechanismen, auch wenn mich die Eiseskälte, mit er dabei vorgeht, frösteln läßt.

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Re: Warum schweigen die Lämmer?

Beitrag von hikaru » 28.10.2016 00:00:48

ralli hat geschrieben:@hikaru, es wäre schön, wenn Du die Erwartungen, die Du an Andere hinsichtlich der Toleranz und des Respektes stellst, Deinen Mitmenschen auch entgegen bringen würdest.
Ich denke das tue ich.
Ich werte jedenfalls nicht die Meinungen anderer ab, nur weil ich sie nicht teile oder gar unbequem finde.
ralli hat geschrieben:Du betreibst Haarspalterei und legst jedes Wort auf die Goldwaage. Es ist Dein Perfektionismus, der sich in jedem Satz und jedem Wort offenbart. Das alles meine ich nicht böse. Denk mal bitte mal darüber nach.
Darüber brauche ich nicht nachdenken, das weiß ich. Und mir ist ebenso bewusst, dass mir das manchmal im Weg steht. Aber ich bin eben durch und durch naturwissenschaftlich geprägt und das schlägt sich dann auch in meinem Charakter nieder.
ralli hat geschrieben:Oder bist Du einfach ein Opfer Deiner Erwartungen? Was bitte sehr erwartest Du von solch einer Rede vor solch einem Publikum?
Ich erwarte von so einer Rede, dass sie die Meinung der Rednerin wiedergibt. Und wenn Emcke der Meinung ist, dass Menschenrechte erkämpft werden müssen, dann hat sie zumindest diesen Teil in ihrer Rede über Menschenrechte nicht deutlich genug gemacht.
ralli hat geschrieben:Du hast doch kein Alzheimer, dann solltest Du auch nicht vergessen haben, das ich Dir oft, sehr oft meine Wertschätzung zum Ausdruck brachte.
Und ich habe mich bei deinem letzten Beitrag gefragt, wie ehrlich bzw. aufrichtig diese Bekundungen wohl waren.
Entschuldige bitte die erneute Haarspalterei, aber das muss jetzt sein:
ralli hat geschrieben:Wer Ihre Rede oder Teile davon als Geschwurbel bezeichnet, disqualifiziert sich selbst. Mein Anstand verbietet es mir, noch deutlicher zu werden...
Jeder der diesen Thread verfolgt weiß, dass du damit konkret mich meinst, denn ich bin der einzige hier, der Teile ihre Rede als Geschwurbel bezeichnet hat (und ich stehe nach wie vor dazu). Deiner Aussage nach würde diese Bezeichnung meinerseits mich für was auch immer disqualifizieren, mir also die Fähigkeit absprechen, mir ein vernünftiges Urteil zu bilden. Mit dieser Absprache der Urteilsfähigkeit setzt du mich als Person herab und vermutlich ist es das was du aufgrund deines Anstandsgefühls nicht aussprechen möchtest.
Ich halte dich für zu intelligent um das nicht zu erkennen. Daher glaube ich, dass du das wirklich so gemeint hast, wenn vielleicht auch nur im Affekt. Ich halte dieses Verhalten für unpassend für jemanden der sich selbst als tolerant bezeichnet.
ralli hat geschrieben:Sollten wir hier wirklich eine Debatte über Respekt führen? Sehr gerne. Meineserachtens ist es wichtig, der Lebensleistung anderer Menschen Respekt zu zollen.

Das erwarte ich selber nicht persönlich von Dir, was meine eigene Person angeht, denn dafür kennst Du mich zu wenig. Aber das gilt schon für Prof. Dr. Mausfeld sowie der diesjährigen Preisträgerin Carolin Emcke.
Ich habe nirgends Frau Emcke persönlich angegriffen, sondern lediglich diese konkrete Rede scharf kritisiert. Ich kenne einige andere öffentliche Auftritte von ihr, und da hinterließ sie bei mir ein gemischtes Bild. Im Großen und Ganzen halte ich sie für ein würdige Vertreterin ihrer Anliegen, aber sie verzettelt sich für meinen Geschmack zu oft in Nebensächlichkeiten auf Kosten der Sache. Diese Rede ist mMn ein Beispiel davon und damit keine ihrer Glanzleistungen.
ralli hat geschrieben:Du läßt einfach kein gutes Haar an anderen Menschen und suchst andauernd das Haar in der Suppe.
Ich hoffe doch, dass ich zumindest mit Bezug auf konkrete Menschen kein solches Bild hinterlasse. Mit Bezug auf Themen und die menschliche Natur im Allgemeinen trifft das aber sicher zu einem gewissen Grad zu.
ralli hat geschrieben:Bist Du unzufrieden und kompensierst das?
Ich bin unzufrieden mit der ewig gleichen Wiederholung simpler untauglicher Lösungsvorschläge. Ich finde, wer es nicht schafft, einen Lösungsvorschlag für komplexe Probleme über zwei Banden zu durchdenken, der sollte lieber den Mund halten, als einfache Fertiggerichte ("Wir schaffen das.", "Haltung und lachenden Mut") zu servieren und so die durchaus wichtige Debatte vollzuspammen. Der "Lösungsvorschlag" den Emcke in dieser Rede präsentiert hat verhungert schon auf dem Weg zur ersten Bande. Und ich halte wiederum sie für zu intelligent um das nicht zu erkennen. Deshalb bin ich mit dieser Rede unzufrieden. Sie hat eine Chance vertan, etwas wirklich Wichtiges zu sagen.

maroc hat geschrieben:So recht will es mir nicht einleuchten, warum Du von Emckes Rede (oder auch von der Rede Martin Luther Kings?) handfeste politische "Lösungen" bzw. einen messbaren gesellschaftlichen Effekt einforderst, Mausfeld aber von einem solch strengen Maßstab ausnimmst.
Ich lege an alle drei die selben Maßstäbe an, hoffe ich zumindest. Ich erwarte von keinem Lösungen oder einen messbaren Effekt. Aber wenn jemand von sich aus Lösungsvorschläge bringt, dann erwarte ich, wie gesagt, dass er sie zumindest ansatzweise durchdacht hat.
Deshalb schätze ich Mausfeld, denn er begibt sich gar nicht erst auf dieses Glatteis. Und deshalb enttäuscht mich diese konkrete Rede von Emcke, denn sie hat sich zu einem "Lösungsvorschlag" hinreißen lassen, der sich aber auf den ersten Blick als untauglich erweist.
An Kings Rede habe ich nichts auszusetzen. Mir ging es nur darum zu verdeutlichen, dass sie in meinen Augen leider nicht den Effekt hatte, den du gern sehen möchtest. Der schwarzen Unterschicht in den USA geht es heute nicht wirklich besser als vor 50 Jahren, soweit ich es beurteilen kann.
maroc hat geschrieben:Woraus schließt Du überhaupt, daß Mausfeld keinen Anspruch auf gesellschaftliche Wirksamkeit erhebt, Emcke jedoch schon?
Ich habe von Mausfeld nie einen Aufruf gehört, der seine Zuhörer/Leser zu irgendwelchen Aktionen im gesellschaftlichen Maßstab aufruft. Sein Rat zur kritischen Medienrezeption war eher deskriptiv. In "Warum schweigen die Lämmer?" heißt es dazu zum Stichwort "Meinungsmanagement":
„normale“ Funktionsweise der Massenmedien
Hier spricht er den Rezipienten gar nicht an, sondern stellt nur seine Beobachtung dar.
Emckes Abschluss ihrer Rede war dagegen für mich ein klarer Appell an die Zuhörer in Form eines Kochrezepts für eine bessere Gesellschaft.
maroc hat geschrieben:Ich glaube nicht, daß ein wie auch immer geartetes neues "System" unsere Welt zum Besseren wenden kann – so gut es auch gemeint sein mag oder so wissenschaftlich fundiert es sich auch geriert.
Ich bin da vollkommen bei dir. Ich glaube nicht, dass es ein solches System geben kann. Aber ich glaube auch, dass es nötig wäre um unsere grundlegenden gesellschaftlichen Probleme zu lösen.
In Star Trek hat die Menschheit genau solch ein besseres System erschaffen und genau deshalb halte ich Star Trek auch für eine Utopie.
maroc hat geschrieben:Ich schätze viele Deiner Beiträge für ihren analytischen Scharfsinn, frage mich aber, ob Deine "Wissenschaftsgläubigkeit" sich nicht in einer Überbewertung von Systemen und "axiomatisch" fundierten Moralgebäuden niederschlägt.
Mit Sicherheit! Ich bin genauso Gefangener meiner eigenen Weltsicht wie jeder andere auch und beurteile aus dieser Position sicher viele Dinge falsch.
maroc hat geschrieben:Vielleicht stimmt es sogar, daß Emcke manchmal zumindest knapp an Platitüden vorbeischrammt. Was mir an ihrer Rede jedoch gefällt, ist ein sympathisches Understatement, eine persönliche Bescheidenheit, wie sie sich ja bereits im Titel der Rede ausdrückt: "Anfangen" läßt sich als Aufforderung zum tätigen Engagement verstehen, zugleich aber eben auch als ein Eingeständnis der Rednerin, daß sie gerade nicht mit einer weiteren großspurigen und systematisch ausgeklügelten Fertiglösung aufwarten kann/will, sondern nur mit kleinen Ermunterungen zu ersten Schritte. Und ihr Kreisen um die Themen "Angehörigkeit" und "Zugehörigkeit" verweist in meinen Augen auf die Bedeutung von Einfühlungsvermögen und persönlicher Anteilnahme für ein menschliches Miteinander, also auch für unsere Gesellschaft.
Da ist sicher was dran. Auch ich halte ihre Rede trotz der Schwächen für hörens- bzw. lesenswert. Aber man sollte sie mMn nicht als Weisheit einer klugen Frau schlucken sondern sich kritisch mit ihrem Inhalt auseinandersetzen.
maroc hat geschrieben:Ehrlich gesagt, ist es eine vergleichbare Wärme und Empathie, die ich bei Mausfeld – seines Zeichens immerhin Psychologe – vermisse. Journalisten erscheinen in seiner Rede als bloße Marionetten eines monolithischen Machtkomplexes aus Wirtschaft und Politik. Dabei hätte ihm ein einfühlsamer Blick auf journalistische Arbeitsbedingungen sicher Ansätze für eine respektvollere und differenziertere Betrachtung liefern können.
Ich weiß was du meinst, aber ich vermisse diese Empathie nicht. Empathie empfinde ich nur für Menschen die mir persönlich irgendwie nahestehen. In politischen Systemen und ähnlichen abstrakten gesellschaftlichen Konstrukten sehe ich aber keinen Raum für Empathie. Sie sollten lediglich ihren Akteuren (Menschen) den Raum zur Entfaltung von Empathie lassen.
Zu einem Mausfeld oder einer Emcke habe ich keine persönliche Beziehung, daher empfinde ich für die auch keine Empathie.
maroc hat geschrieben:An Mausfeld schätze ich durchaus seine analytische Durchdringung medialer Wirkungsmechanismen, auch wenn mich die Eiseskälte, mit er dabei vorgeht, frösteln läßt.
Ich finde gerade diese Eiseskälte bei Mausfeld ansprechend, denn damit nimmt er sich selbst als Person völlig aus dem Spiel. Es bleibt nur der "Psychologiecomputer" übrig, der unsere Gesellschaft messerscharf und gnadenlos seziert.
Wenn wir jetzt genauso emotionslos auf das schauen, was Mausfeld da auf dem Seziertisch vor uns ausgebreitet hat, dann können wir vielleicht ohne den Dunst der emotionalen Verbrämung die unsere Politik gerade überall durchdringt erkennen, was an den Wurzeln unserer Gesellschaft schief läuft.

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Re: Warum schweigen die Lämmer?

Beitrag von ralli » 28.10.2016 07:56:06

Jetzt möchte ich mich doch dem Diskurs stellen, sonst wird mir das noch als Unvermögen angekreidet.

Carolin Emckes Dankesrede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises 2016 ist (für mich) eine Sternstunde für Menschenrechte, Menschenwürde, Toleranz und der Freiheit einer liberalen, offenen dialogfähigen Gesellschaft. Sie ist auch ein Apell gegen Hass, der täglich unser menschliches Miteinander vergiftet.

Sie steht durchaus auf einer Ebene von Martin Luther Kings berühmter Rede.
Menschenrechte sind kein Nullsummenspiel. Niemand verliert seine Rechte, wenn sie allen zugesichert werden. Menschenrechte sind voraussetzungslos. Sie können und müssen nicht verdient werden. Es gibt keine Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit jemand als Mensch anerkannt und geschützt wird. Zuneigung oder Abneigung, Zustimmung oder Abscheu zu individuellen Lebensentwürfen, sozialen Praktiken oder religiösen Überzeugungen dürfen keine Rolle spielen. Das ist dochder Kern einer liberalen, offenen, säkularen Gesellschaft.
Und genau dieser Absatz macht die Rede zu etwas ganz Besonderem. Jeder neu geborene Mensch wird frei geboren und ist mit der Aura und dem Schutz der Menschenwürde versehen. Er muß sie sich weder verdienen oder erkämpfen. Und Menschenrechte sind an das Menschsein gebunden und daher unveräußerlich.

Es ist unfair und unredlich, dieses anzuzweifeln oder in Frage zu stellen. Denn Menschenrechte und Menschenwürde sind unantastbar und unverhandelbar.

Menschenwürde und Menschenrechte sind mit bedingungsloser Liebe gleichzusetzen.
Verschiedenheit ist kein hinreichender Grund für Ausgrenzung.

Ähnlichkeit keine notwendige Voraussetzung für Grundrechte.

Das ist großartig, denn es bedeutet, dass wir uns nicht mögen müssen. Wir müssen einander nicht einmal verstehen in unseren Vorstellungen vom guten Leben. Wir können einander merkwürdig, sonderbar, altmodisch, neumodisch, spießig oder schrill finden.
Hier wird pure Toleranz angesprochen, die das Fundament der Menschenwürde und der Menschenrechte ist.
Zur Zeit grassiert ein Klima des Fanatismus und der Gewalt in Europa. Pseudo-religiöse und nationalistische Dogmatiker propagieren die Lehre vom »homogenen Volk«, von einer »wahren« Religion, einer »ursprünglichen« Tradition, einer »natürlichen« Familie und einer »authentischen« Nation. Sie ziehen Begriffe ein, mit denen die einen aus- und die anderen eingeschlossen werden sollen. Sie teilen willkürlich auf und ein, wer dazugehören darf und wer nicht.

Alles Dynamische, alles Vielfältigean den eigenen kulturellen Bezügen und Kontexten wird negiert. Alles individuell Einzigartige, alles, was uns als Menschen, aber auch als Angehörige ausmacht: unser Hadern, unsere Verletzbarkeiten, aber auch unsere Phantasien vom Glück, wird geleugnet. Wir werden sortiert nach Identität und Differenz, werden in Kollektive verpackt, alle lebendigen, zarten, widersprüchlichen Zugehörigkeiten verschlichtet und verdumpft.

Sie stehen vielleicht nicht selbst auf der Straße und verbreiten Angst und Schrecken, die Populisten und Fanatiker der Reinheit, sie werfen nicht unbedingt selbst Brandsätze in Unterkünfte von Geflüchteten, reißen nicht selbst muslimischen Frauen den hijab oder jüdischen Männern die Kippa vom Kopf, sie jagen vielleicht nicht selbst polnische oder rumänische Europäerinnen, greifen vielleicht nicht selbst schwarze Deutsche an – sie hassen und verletzen nicht unbedingt selbst. Sie lassen hassen.

Sie beliefern den Diskurs mit Mustern aus Ressentiments und Vorurteilen, sie fertigen die rassistischen Product-Placements, all die kleinen, gemeinen Begriffe und Bilder, mit denen stigmatisiert und entwertet wird, all die Raster der Wahrnehmung, mithilfe derer Menschen gedemütigt und angegriffen werden.

Dieser ausgrenzende Fanatismus beschädigt nicht nur diejenigen, die er sich zum Opfern sucht, sondern alle, die in einer offenen, demokratischen Gesellschaft leben wollen. Das Dogma des Homogenen, Reinen, Völkischen verengt die Welt. Es schmälert den Raum, in dem wir einander denken und sehen können. Es macht manche sichtbar und andere unsichtbar. Es versieht die einen mit wertvollen Etiketten und Assoziationen und die anderen mit abwertenden. Es begrenzt die Phantasie, in der wir einander Möglichkeiten und Chancen zuschreiben. Mangelnde Vorstellungskraft und Empathie aber sind mächtige Widersacher von Freiheit und Gerechtigkeit.

Sie wollen uns weißmachen, dass es das nicht gäbe, Verfassungspatriotismus und demokratischen Humanismus. Sie wollen Pässe als Ausweise der inneren Verfasstheit missdeuten, nur um uns gegeneinander auszuspielen. Das hat auch etwas Groteskes: Jahrzehntelang hat diese Gesellschaft geleugnet, eine Einwanderungsgesellschaft zu sein, jahrzehntelang wurden Migrantinnen und Migranten und ihre Kinder und Enkel als »Fremde« angesehen, nicht als Bürgerinnen und Bürger, jahrzehntelang wurden sie behandelt als gehörten sie nicht dazu, als dürften sie nichts anderes sein als Türken – und jetzt wirft man ihnen vor, sie wären nicht deutsch genug und besäßen einen zweiten Pass?
Wenn das keine messerscharfe Analyse unseres augenblicklichen Gesellschaftscharakter ist, was dann? Vorurteile, Fremdenhass und Ausgrenzung sind der Ungeist, der bekämpft werden muß. Sie spalten die Gesellschaft und unterhöhlen unsere Demokratie.

Gleich geht es weiter ....
Zuletzt geändert von Anonymous am 28.10.2016 08:20:26, insgesamt 1-mal geändert.
Wer nicht lieben kann, muß hassen. Wer nicht aufbauen kann muß zerstören. Wer keine Brücken baut, muß spalten.

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ralli
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Re: Warum schweigen die Lämmer?

Beitrag von ralli » 28.10.2016 08:15:44

Deswegen müssen sich auch alle angesprochen fühlen.

Deswegen lässt sich die Antwort auf Hass und Verachtung nicht einfach nur an »die Politik« delegieren. Für Terror und Gewalt sind Staatsanwaltschaften und die Ermittlungsbehörden zuständig, aber für all die alltäglichen Formen der Missachtung und der Demütigung, für all die Zurichtungen und Zuschreibungen in vermeintlich homogene Kollektive, dafür sind wir alle zuständig.

Das ist es eben, was die Fanatiker und Populisten der Reinheit wollen: sie wollen uns die analytische Offenheit und Einfühlung in die Vielfalt nehmen. Sie wollen all die Gleichzeitigkeiten von Bezügen, die uns gehören und in die wir gehören, dieses Miteinander und Durcheinander aus Religionen, Herkünften, Praktiken und Gewohnheiten, Körperlichkeiten und Sexualitäten vereinheitlichen.
Es müssen alle gesellschaftlichen Kräfte gebündelt werden, um der weiteren gesellschaftlichen Verrohung und Verwahrlosung durch Ausgrenzung Einhalt zu gebieten. Wenn wir uns bei Lösungen auf die Politik verlassen, dann sind wir verlassen.

Aufgemerkt @hikaru, und hier kommen von Frau Emcke brauch- und anehmbare Lösungen, die ganz klar und eindeutig zum Handeln auffordern:
Was wir tun können?

»Sprechend und handelnd schalten wir uns in die Welt der Menschen ein, die existierte, bevor wir in sie geboren wurden«, schrieb Hannah Arendt in der Vita Activa, »und diese Einschaltung ist wie eine zweite Geburt, in der wir die nackte Tatsache des Geborenseins bestätigen, gleichsam die Verantwortung dafür auf uns nehmen.«

Wir dürfen uns nicht wehrlos und sprachlos machen lassen. Wir können sprechen und handeln. Wir können die Verantwortung auf uns nehmen. Und das heißt: Wir können sprechend und handelnd eingreifen in diese sich zunehmend verrohende Welt.

Dazu braucht es nur Vertrauen in das, was uns Menschen auszeichnet: die Begabung zum Anfangen. Wir können hinausgehen und etwas unterbrechen. Wir können neu geboren werden, in dem wir uns einschalten in die Welt. Wir können das, was uns hinterlassen wurde, befragen, ob es gerecht genug war, wir können das, was uns gegeben ist, abklopfen, ob es taugt, ob es inklusiv und frei genug ist – oder nicht.

Wir können immer wieder anfangen, als Individuen, aber auch als Gesellschaft. Wir können die Verkrustungen wieder aufbrechen, die Strukturen, die uns beengen oder unterdrücken, auflösen, wir können austreten und miteinander suchen nach neuen, anderen Formen.

Wir können neu anfangen und die alten Geschichten weiterspinnen wie einen Faden Fesselrest, der heraushängt, wir können anknüpfen oder aufknüpfen, wir können verschiedene Geschichten zusammen weben und eine andere Erzählung erzählen, eine, die offener ist, leiser auch, eine, in der jede und jeder relevant ist.

Das geht nicht allein. Dazu braucht es alle in der Zivilgesellschaft. Demokratische Geschichte wird von allen gemacht. Eine demokratische Geschichte erzählen alle. Nicht nur die professionellen Erzählerinnen und Erzähler. Da ist jede und jeder relevant, alte Menschen und junge, die mit Arbeit und die ohne, die mit mehr und die mit weniger Bildung, Dragqueens und Pastoren, Unternehmerinnen oder Offiziere, Rentnerinnen und Studenten, jede und jeder ist wichtig, um eine Geschichte zu erzählen, in der alle angesprochen und sichtbar werden. Dafür stehen Eltern und Großeltern ein, daran arbeiten Erzieher und Lehrerinnen in den Kindergärten und Schulen, dabei zählen Polizistinnen und Sozialarbeiter sowie Clubbesitzerinnenund Türsteher. Diese demokratische Geschichte eines offenen, pluralen Wir braucht Bilder und Vorbildern, auf den Ämtern und Behörden ebenso wie in den Theatern und Filmen – damit sie uns zeigen und erinnern, was und wer wir sein können.

Wir dürfen uns nicht nur als freie, säkulare, demokratische Gesellschaft behaupten, sondern wir müssen es dann auch sein.

Freiheit ist nichts, das man besitzt, sondern etwas, das man tut.

Säkularisierung ist kein fertiges Ding, sondern ein unabgeschlossenes Projekt.

Demokratie ist keine statische Gewissheit, sondern eine dynamische Übung im Umgang mit Ungewissheiten und Kritik.

Eine freie, säkulare, demokratische Gesellschaft ist etwas, das wir lernen müssen. Immer wieder. Im Zuhören aufeinander. Im Nachdenken über einander. Im gemeinsamen Sprechen und Handeln. Im wechselseitigen Respekt vor der Vielfalt der Zugehörigkeiten und individuellen Einzigartigkeiten. Und nicht zuletzt im gegenseitigen Zugestehen von Schwächen und im Verzeihen.

Ist das mühsam? Ja, total. Wird das zu Konflikten zwischen verschiedenen Praktiken und Überzeugungen kommen? Ja, gewiss. Wird es manchmal schwer sein, die jeweiligen religiösen Bezüge und die säkulare Grundordnung in eine gerechte Balance zu bringen? Absolut. Aber warum sollte es auch einfach zugehen?

Wir können immer wieder anfangen.

Was es dazu braucht?

Nicht viel: etwas Haltung, etwas lachenden Mut und nicht zuletzt die Bereitschaft, die Blickrichtung zu ändern, damit es häufiger geschieht, dass wir alle sagen:

Wow. So sieht es also aus dieser Perspektive aus.
Ich kann hier weder Plattitüden erkennen noch irgendeine wie auch immer geartete "Schwurbelei".

Was die andauernden Forderungen nach Lösungen angeht, so möchte ich schließen und sagen:

Wir müssen nicht immer wieder den uneinlösbaren Anspruch erheben, was die Gesellschaft uns geben soll oder zu geben hat, sondern uns ernsthaft darum bemühen, was wir bereit sind, der Gesellschaft zu geben.

Wenn wir uns darum bemühen, jeder einzelne für sich, dann schaffen wir die Wende. Wir sollten ins Gelingen verliebt sein und das uns alles Verbindende wahrnehmen, dann ist mir um die Zukunft nicht bange.

@hikaru entschuldige bitte, das ich Dich im Eifer des Gefechtes so angegangen bin. Aber das Wort "Geschwurbel" ist Deiner Intelligenz nicht würdig und eine solche Ausdrucksweise hast Du auch nicht nötig! Die Wertbeladenheit dieses Wortes ist schon arg herabsetzend, meinst Du nicht? Und bei aller sachlichen Kritik hat das Caroline Emcke nicht verdient.
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