Aufstehen statt wegducken

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Re: Aufstehen statt wegducken

Beitrag von hikaru » 06.06.2017 11:49:50

Jochen Malmsheimer hat geschrieben:Nichts war früher besser. Das stimmt nicht! Das ist ein Quadratunsinn!
Was hat der Mann? Recht hat er! ;) [1]
TuxPeter hat geschrieben:Auch wenn ich den Alte-Leute-Nörgelfaktor in Rechnung stelle, so scheint mir doch völlig klar zu sein, dass es in den letzten Jahrzehnten so etwas wie eine schleichende Entsolidarisierung der Gesellschaft gegeben hat.
U.a. dazu hat sich Mausfeld vor gut einem Monat geäußert. [2] (Vorsicht: lang!)

[1] https://www.youtube.com/watch?v=3dR0GpInm0c
[2] https://www.youtube.com/watch?v=AU8hjfhAAxg

rockyracoon
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Re: Aufstehen statt wegducken

Beitrag von rockyracoon » 06.06.2017 11:59:09

Ich stimme Revod zu.
Und:
...now everybody seems to have their own opinion
of who did this and who did that
but as for me I don't see how they can remember
when they weren't where it was at...

Aus: Paul Mc Cartney, "Early Days"
https://www.youtube.com/watch?v=-UafjNnzOaY
Die 68er, Aldous Huxley, the Beatles, the Rolling Stones, Arthur Janov, Otto Mühl, Bhagwan etc. - I lived through those early days...

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Re: Aufstehen statt wegducken

Beitrag von BenutzerGa4gooPh » 06.06.2017 17:55:36

@hikaru: Danke für die Links!

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Re: Aufstehen statt wegducken

Beitrag von rockyracoon » 06.06.2017 19:24:06

Zunahme von Vandalismus aus Sozialneid, organisiertem Verbrechen, Terrorismus, Amoklauf, Klimawandel etc. - zufällige Zeiterscheinungen? Nein.
Heute ist es anders als Früher. Ja. Warum?
Weil idealistisches Geschwätz vorherrscht und die konkreten materiellen Fakten vernebelt werden.
Betroffenheitsgedusel übertüncht die nüchterne Analyse von Profit- und Machtinteressen.
Man ist damit beschäftigt, sich von der Einen oder Anderen Richtung zu distanzieren.
Political Correctness ist wichtiger als die Entlarvung und aktiv wie passiv Widerstand zu leisten.
Man hat zu vermeiden, als Sozialneider, Gutmensch oder Verschwörungstheoretiker zu gelten.
Fußballergebnisse, Billigdiscounterpreise und Events sind wichtiger als das Schicksal von Whisleblowern.
Investigativer Journalismus ist im Aussterben begriffen.
"...Klischees von Heute waren Früher Utopien..."
Aus: https://www.youtube.com/watch?v=lp0RkxEppWA :THX:

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Re: Aufstehen statt wegducken

Beitrag von BenutzerGa4gooPh » 06.06.2017 19:53:56

rockyracoon hat geschrieben:Weil idealistisches Geschwätz vorherrscht und die konkreten materiellen Fakten vernebelt werden.
Das Wort "idealistisch" würde ich durch "propagandistisch" ersetzen. :wink:
rockyracoon hat geschrieben:Man ist damit beschäftigt, sich von der Einen oder Anderen Richtung zu distanzieren.
Man hat zu vermeiden, als Sozialneider, Gutmensch oder Verschwörungstheoretiker zu gelten.
Den "Gutmenschen" haben manche zum Ziel - ohne Argumente von Realisten zu prüfen, ja sogar davor die Augen zu verschließen.
Hinsichtlich der philanthropischen Praxis distanzierten sich aufklärerische Kreise jedoch vom traditionellen Ideal der Barmherzigkeit aus Nächstenliebe. An die Stelle karitativer Notlinderung sollte die Beseitigung der Ursachen sozialer Übelstände treten.
...
Trotz des Anscheins reiner Uneigennützigkeit war und ist das Streben nach Prestige und Nachruhm ein wesentliches Handlungsmotiv der Philanthropen. Ein Beleg dafür ist der Umstand, dass ihre Leistungen von Stiftungen und Vereinen öffentlich demonstrativ gewürdigt wurden. Nicht nur Stiftungen pflegte man nach den Stiftern zu benennen, auch Gebäude, Säle und ganze Anstalten trugen ihre Namen.[197]
https://de.m.wikipedia.org/wiki/Philanthropie

Die Amadou-Stiftung und Frau IM Kahane sind wohl etwas umstritten.
http://info.kopp-verlag.de/hintergruend ... tzes-.html
http://www.tagesspiegel.de/politik/trot ... 40904.html
https://de.m.wikipedia.org/wiki/Anetta_Kahane

Einer warb kürzlich für eine Umfrage bezüglich "Filterblasen". Eine kleine Diskussion darüber fände ich ganz nett. Ich lese gern mal heise.de. Habe mich dabei ertappt, vorrangig Kommentare zu lesen, die in mein Weltbild passen. Seitdem habe ich das etwas eingeschränkt. Dann soll es noch Propaganda als " Designinstrument" der professionellen Schaum- und Blasenschlaeger geben.

Edit: rockyracoon, du bist mit den Filterblasen nicht gemeint, hast mich nur auf die Idee gebracht, darüber zu schreiben. Sowie einige Kommentare und Links vorher. :wink:
Zuletzt geändert von BenutzerGa4gooPh am 06.06.2017 20:04:54, insgesamt 4-mal geändert.

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Re: Aufstehen statt wegducken

Beitrag von rockyracoon » 06.06.2017 19:56:34

Das Wort "idealistisch" habe ich genau so wie "materialistisch" (als Antagonisten) sehr bewußt gewählt.
In der Hoffnung, dass es noch Leute gibt, die die Basisliteratur der Sozialkritik kennen.
Es geht darum, die so etwas wie die hegelsche Dialektik „vom Kopf auf die Füße“ zu stellen, weil heute wieder das "Träumen" vorherrscht.

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Re: Aufstehen statt wegducken

Beitrag von BenutzerGa4gooPh » 06.06.2017 20:07:18

rockyracoon hat geschrieben:Es geht darum, die so etwas wie die hegelsche Dialektik „vom Kopf auf die Füße“ zu stellen, weil heute wieder das "Träumen" vorherrscht.
Oder durch professionelle "Filterblasen" gesteuertes "Träumen"? (Eigentlich hätte mir der Begriff "Volksverbloedung" besser gefallen.)
Zuletzt geändert von BenutzerGa4gooPh am 06.06.2017 20:09:40, insgesamt 1-mal geändert.

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Re: Aufstehen statt wegducken

Beitrag von rockyracoon » 06.06.2017 20:08:48

Oder durch professionelle "Filterblasen" gesteuertes Träumen?
Ja, klar.
Zu Macht und Ausbeutung gehört zwingend Desinformation und Manipulation. Opium für das Volk halt.

maroc

Re: Aufstehen statt wegducken

Beitrag von maroc » 07.06.2017 11:37:12

rockyracoon hat geschrieben: Es geht darum, die so etwas wie die hegelsche Dialektik „vom Kopf auf die Füße“ zu stellen, weil heute wieder das "Träumen" vorherrscht.
Ich verstehe was Du meinst, und doch verwundert es mich, dass Du Deinen (nostalgischen?) Reminiszenzen an die 68er Zeit zum Trotz das "Träumen" so einseitig abwertest. Das wird der Bedeutung, die dem "Dream" in der damaligen Popkultur zukam, kaum gerecht. John Lennon verkündete zwar das Ende aller Träume ( "The dream is over", God 1970), nur um sich postwendend doch wieder als Träumer auszuweisen: "You may think that I'm a dreamer, but I am not the only one" (Imagine 1971). Träume von einem besseren und gerechteren Leben waren ein wesentlicher Antrieb der Hippie- wie der Bürgerrechtsbewegung. Es ist kein Zufall, dass bereits Martin Luther Kings "I had a Dream" zum Fanal eines Aufbruchs wurde. Auch Willy Brandts Ostpolitik stellte sich in gewisser Hinsicht als die Verwirklichung eines Traums von Versöhnung dar.

Erst Helmut Schmidt konnte (in Abgrenzung von Willy Brandt?) einer neuen Nüchternheit Ausdruck verleihen mit seinem schnoddrigen Bonmot "Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen". Wobei schon innerhalb der 68er Bewegung ein zunehmender Hang zu strammen Ideologien letztlich den Abschied von der Hippie-Träumerei einläutete.

Um noch einmal John Lennon das Wort zu geben: Schon in Strawberry Fields scheint er mir die schillernde Ambivalenz des Träumens verspielt-selbstironisch auf den Punkt gebracht zu haben:
Always, no sometimes, think it's me
But you know I know when it's a dream
I think I know I mean a yes
But it's all wrong
That is I think I disagree
(John Lennon, Strawberry Fields forever 1967)
https://www.youtube.com/watch?v=hVM0WE5Fis0

Nachtrag: Vielleicht ist uns Heutigen die subversive Fähigkeit zum Träumen abhanden gekommen; in dieses Vakuum ergießen sich dann Gereiztheit, Häme und Shitstorms ... 8O

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Re: Aufstehen statt wegducken

Beitrag von rockyracoon » 07.06.2017 13:01:05

@maroc: :THX:

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Re: Aufstehen statt wegducken

Beitrag von hikaru » 07.06.2017 13:26:03

maroc hat geschrieben:Träume von einem besseren und gerechteren Leben waren ein wesentlicher Antrieb der Hippie- wie der Bürgerrechtsbewegung. Es ist kein Zufall, dass bereits Martin Luther Kings "I had a Dream" zum Fanal eines Aufbruchs wurde.
Ich denke der wesentliche Unterschied zwischen der 68er-Bewegung und heute ist, dass wir zwar immer noch das selbe Grundproblem haben wie damals (mangelnde Teilhabe der Bevölkerung an politischen Prozessen), aber die Träume von einer besseren Welt von damals sich als naiv erwiesen haben. Und wir haben keine neuen Träume entwickelt, die ebenso begeisternd aber weniger naiv sind.

King träumte, weil er die Welt in der er lebte verbessern wollte. Wer heute träumt, der träumt weil er der Welt in der er lebt entfliehen möchte. Es sind also zwei verschiedene Arten zu träumen. Und wer alt genug ist um Kings Art des Träumens noch miterlebt zu haben, der verachtet vielleicht die heutige Art des Träumens für ihre Ideenlosigkeit - zurecht, aber unter Vernachlässigung des historischen Kontextes.
Natürlich gibt es auch heute Leute, die träumen um die Welt zu verbessern (z.B. Occupy), aber diese Weltverbesserungsträume sind als naiv entlarvt, was sie vielleicht zu Zeiten Kings noch nicht waren.

Ich denke sogar, dieser Prozess der Entlarvung lässt sich kulturell recht deutlich verorten, nämlich in der Punkbewegung. In deren Frustration manifestierte sich in meinen Augen die Erkenntnis, dass "Weltverbesserung im Sinne des kleinen Mannes" eine Utopie ist. Im Niedergang des Punk könnte man dann sogar den Übergang von der Frustration zur Resignation vermuten.

Das "Betroffenheitsgedusel" das rockyracoon wahrnimmt sehe ich als eine Art Echo des positiven King-Träumens, das einerseits von denen kommt die nicht wahr haben wollen, dass diese Träume naiv waren und andererseits von denen die im Sinne des Füßestillhaltens ein Interesse daran haben, dass die breite Masse weiterhin an das Funktionieren dieser Träume glaubt.
maroc hat geschrieben:Erst Helmut Schmidt konnte (in Abgrenzung von Willy Brandt?) einer neuen Nüchternheit Ausdruck verleihen mit seinem schnoddrigen Bonmot "Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen".
Danke, dass du das gebracht hast! Ich denke, zusammen mit dem King-Zitat und dem "No Future" aus "God save the Queen" von den Sex Pistols lässt sich dieser Prozess der Desillusionierung gut veranschaulichen.
maroc hat geschrieben:Nachtrag: Vielleicht ist uns Heutigen die subversive Fähigkeit zum Träumen abhanden gekommen; in dieses Vakuum ergießen sich dann Gereiztheit, Häme und Shitstorms ... 8O
Ich denke uns ist nicht die Fähigkeit zum Träumen abhandengekommen, sondern der Glaube an sein Funktionieren. Und ich finde das ehrlich gesagt nicht schade. Nur wenn man in der Lage ist die Verhältnisse klar zu sehen, dann kann man auch realistisch darauf reagieren. Romantische Träume mögen sich zwar kuschelig anfühlen, helfen dabei aber nicht.
Jetzt müssen wir "nur" noch das Vakuum mit etwas realistisch Konstruktivem füllen. Hier bin ich leider immer mit meinem Latein am Ende.

maroc

Re: Aufstehen statt wegducken

Beitrag von maroc » 07.06.2017 21:58:38

@hikaru
Danke für Deinen sehr anregenden Beitrag – für mich, ganz ehrlich, mit das Beste, was ich seit längerem in den politischen Smalltalks des Forums lesen durfte. :THX:

Deine Verweise auf die Punkbewegung sind eine faszinierende und einleuchtende Ergänzung des Bildes vom Aufstieg und Niedergang der Weltverbesserungsträume – auch wenn der Punk an mir selbst irgendwie weitgehend vorrübergegangen ist (hingegen sind fast alle Songs der Beatles jederzeit abrufbereit irgendwo in meinem Hirn abgespeichert, das weniger bekannte "Rocky Raccoon" eingeschlossen :wink: ). Wenn Du – im Rückblick – die großen sozialen Bewegungen als naiv entlarvt siehst, so kann ich Dir sogar weitgehend zustimmen, auch wenn sie andererseits ja nicht ganz ohne konkrete Wirkung geblieben sind und ihr Echo noch heute nachklingt. Diese Träume waren oft von Anfang an ambivalent; die psychedelischen Träume der Flowerpower-Generation waren eben Weltflucht und Weltverbesserungsanspruch in einem. Mittlerweile ist unsere durchindividualisierte Gesellschaft in so viele partikuläre, fluide und sich gegenseitig abstoßende und anziehende Teilkulturen (ja, auch Filterblasen) aufgesplittert, dass ein neuerlicher Aufbruch in der Art der 68er sowieso kaum mehr zu erwarten ist.

Im desillusionierten Abschied von den großen Träumen und Ideologien könnte vielleicht aber auch eine Chance liegen: eine Verständigung über alle Gräben hinweg, um in kleinen Schritten das, wie Du es nennst, "realistisch Konstruktive" tatsächlich in Angriff zu nehmen. Ansätze hierzu sehe ich allerdings zugegebenermaßen kaum: Etablierte Politiker verweigern sich dem direkten Dialog mit (Rechts-)Populisten. Frustrierte Bürger wiederum zerreissen genüsslich auf Amazon das Buch eines Ministers als "Machwerk", obwohl sie es mehrheitlich gar nicht gelesen haben (um noch einmal auf den Aufhänger der Diskussion zurückzukommen). Hätte ich noch einen "Traum" frei, so würde er von einer neuen Basiskultur gegenseitigen Respekts handeln, ohne welche die von Dir und auch mir gewünschte größere "Teilhabe der Bevölkerung an politischen Prozessen" kaum je funktionieren oder überhaupt zustande kommen wird.

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Re: Aufstehen statt wegducken

Beitrag von novalix » 08.06.2017 00:36:04

Definiere "naiv"! *scnr*
Mir fallen auf Anhieb mehrere "naivs" ein:

Die Poona-Pilger waren wohl ziemlich naiv.

Die RAF mit ihrer Vorstellung einer kämpfenden Avantgarde, die die allgemeine Revolution nach sich ziehen würde, war es auch.

Die Vorstellung einen Marsch durch die Institutionen anzutreten und hinten so raus zu kommen, wie man vorne rein kam, ist offensichtlich krachend naiv gewesen.

Adorno war wohl nicht direkt naiv, nur dermaßen kryptisch, dass er beim besten Willen nicht ernsthaft glauben konnte, man lese seine Bücher, um sie zu verstehen.

Ein politisches Konzept, welches auf "Nicht-Gewalt" und den "Weg der Wahrheit" gründet, muss man nach heutigen Maßstäben wohl als Ausbund der Naivität bezeichnen. Dennoch hat Ghandi im Gegensatz zu Nigel Farage den Brexit voll durchgezogen.

Die spanischen Anarchisten waren naiv. Schließlich sind sie im Verbund der Faschisten und Stalinisten zerrieben, zerstört, getötet und vertrieben worden. Die Bürgerlichen haben die Reste dann in Lager gepfercht und sich nicht mehr weiter darum gekümmert. Waren ja Anarchisten.

Einer, der Theorie und Praxis ganz ordentlich unter einen Hut gebracht haben soll, war Archimedes. Dann traf er auf einen, der mit Theorie nix am Hut hatte und in praktischen Dingen darauf beschränkt war, anderen Leuten den Garaus zu machen.
Rückblickend wäre Archimedes wohl zu der Feststellung gelangt, dass es reichlich naiv war, zu glauben, der Hinweis seine Kreise nicht zu stören, wäre ausreichend, um tatsächlich ungeschoren zu bleiben.

Manchmal glaubt man ja auch, man müsse mit Trump, Goebbels, $ChooseYourFavouriteRechtspopulist einfach nur mal reden; auch irgendwie naiv.

Ob Ideen oder Vorgehensweisen tragfähig sind, entscheidet sich vielleicht am Erfolg im Sinne einer abgeschlossenen Handlung, Reform, Revolution, Staatsform oder Maschine. Möglicherweise sind aber die Anknüpfungspunkte, auch wenn es nur lose Enden sind, viel wichtiger. Man muß ja nicht alles direkt zu ende bringen. Daraus lernen ist schon nicht wenig.
Das Wem, Wieviel, Wann, Wozu und Wie zu bestimmen ist aber nicht jedermannns Sache und ist nicht leicht.
Darum ist das Richtige selten, lobenswert und schön.

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Re: Aufstehen statt wegducken

Beitrag von scientific » 08.06.2017 00:45:50

Die Träume der Weltverbesserer von damals haben sich allerdings ziemlich in Luft aufgelöst, bzw. zerschellen an der Realität.

Ging man in den 70er und 80ern noch davon aus, dass man mit technischen Maßnahmen die Umwelt retten könnte (ohne großartig etwas am Verhalten ändern zu müssen), haben wir heute massive technische Verbesserungen in so vielen Bereichen. Aber das nicht nur nicht geänderte Verhalten, sondern das in der selben Richtung weitergetriebene Verhalten von damals hat sämtliche Verbesserungen aufgefressen, und wir berauben uns unserer Lebensgrundlage stärker denn je.
Wurde in den 1980ern noch davon geredet, dass man, wenn man einen Katalysator beim PKW verwende, man umweltfreundlich sei, so zeigte sich sehr schnell, dass die Menschen es so verstanden haben, dass man, je mehr man mit einem Fahrzeug fährt, dass einen Katalysator besitzt, die Umelt mehr schütze... Oder wenn ich mir ein neues Auto kaufe, dass 1/2L weniger Benzin auf 100km verbraucht, dann tu ich der Umwelt etwas gutes... Die Energie, die zur Herstellung des neuen Fahrzeugs aufgewendet werden muss, wird einfach nicht in die Rechnung mit einbezogen. Und so steigt der Energieverbrauch immer stärker an, obwohl die Menschen überzeugt sind, eh zu sparen...

Auf der zwischenmenschlichen Ebene hat Egoismus, Patriotismus und Abgrenzung die Ideale von "damals", nämlich Freiheit, Offenheit, Gleichheit und Friede, abgelöst. Solidarität ist zum Schimpfwort verkommen bzw. gänzlich in Vergessenheit geraten. Ich habe mich letzten Sommer von der größen Social-Media-Plattform verabschiedet, weil ich es nicht mehr ertragen habe, dass ich beschimpft wurde, weil ich Solidarität, Mitgefühl und Verständnis eingefordert habe. Ich wäre ein linkslinker Gutmensch, ein Träumerlein und Weltverbesserer, und ich solle mit meinem Wunschdenken scheissen gehen, wurde mir um die Ohren geknallt...

Wohin man heute blickt, schlägt einem Beißen gegen Schwächere als opportune Handlung entgegen. Flüchtlingen darf man nicht helfen, weil dann nichts für "unsere" Obdachlosen übrig bleibt. Aber "unseren" Obdachlosen hilft man auch nicht, weil die Gfrasta sollen etwas arbeiten... Das Geld trägt man lieber in die private Krankenversicherung anstatt in die gesetzlichen/staatlichen. Pensionsgelder legt man lieber in Fonds die alleine 20% und mehr Werbebudget haben, vom Verwaltungsaufwand einmal ganz abgesehen, anstatt es einem selbstverwalteten Umlageverfahren mit 3-5% Verwaltungsaufwand und ohne Werbebudget zu überantworten, von dem man selber später einmal profitieren wird können. Bei den privaten Fonds für Kranken- und Pensionsvorsorge müssen neben Werbe- und Verwaltungsaufwand auch noch Gewinne für die Fondsgesellschaften finanziert werden, bei den staatlichen nicht... Und dennoch denken die Leute, dass sie bei privaten Fonds sicher viel mehr Geld im Alter bekommen, als bei einer staatlichen Pensionsversicherung...

Einerseits können die Leute nicht rechnen (das machen ja eh die Computer und Fachleute!!!) und andererseits schlägt die Gier und Kurzsichtigkeit zusätzlich zu. Die versprochene Aussicht auf ein paar Euro im Monat mehr macht die Menschen blind für das Risiko, dass sie mit privaten Vorsorgekassen eingehen und blind für die tatsächlichen Kosten die sie ein ganzes Leben lang berappen müssen, damit im schlimmsten Fall der Fonds pleite geht und sie im Alter ohne irgendwas dastehen... (wäre nicht das erste Mal, dass ein privater Pensionsfonds pleite geht)... der Staat muss ja dann eh einspringen und geradestehen... Warum nicht gleich ALLE und SOLIDARISCH in EIN Pensionssystem im Umlageverfahren einzahlen? Ach ja... was ist ein Umlageverfahren??? Kennen auch die meisten nicht mehr.

Ich habe in vielen Diskussionen gehört, dass die "scheiß Beamten so viele Privilegien haben" Buh und Bäh, diese bösen und faulen Beamten. Und die Eisenbahner, und die Lehrer...
Auf die Frage, ob die schimpfenden Diskussionsteilnehmer denn in einer Gewerkschaft für ihre Branche Mitglied wären, bekam ich so gut wie immer ein fassungsloses "Nein, sicher nicht!!!" mit einem Gesichtsausdruck des "wie kannst du es nur wagen, mich in die Nähe einer Gewerkschaft zu bringen???"

Ich habs dann so erklärt:
"Sieh mal, die Berufsgruppen, die du gerade so wegen ihrer Privilegien beschimpft hast, sind alle überdurchschnittlich gut in Gewerkschaften organisiert. Die Gewerkschaften verhandeln die Kollektivverträge mit. Gibts eine starke Gewerkschaft - also eine mit VIELEN Mitgliedern - hat der Verhandlungspartner Gewerkschaft ggü. den Arbeitgebervertretern wesentlich bessere Karten in der Hand, die wiederum in für die Arbeitnehmer guten Kollektivverträgen münden... Wenn du also bessere Bedingungen in der Arbeit willst, dann sieh zu, dass du deiner Gewerkschaft beitrittst und möglichst viele deiner Kollegen zum selben Schritt animierst. Dann werdet auch ihr in eurer Branche mehr Geld, weniger Arbeitszeit, mehr Urlaub, bessere Bedingungen usw. durchsetzen können, und du bräuchtest dich nicht mehr den Beamten, Lehrern und Eisenbahnern ggü. vernachlässigt fühlen"
Ich habe noch nie am Ende so einer Diskussion einen Blick der Erkenntnis geerntet... Bestenfalls hörte ich ein "Bist du von der Gewerkschaft? Willst du mich anwerben?"

Ich bin nicht beider Gewerkschaft. Ich will auch niemanden für eine Gewerkschaft anwerben. Ich will lediglich Bewusstsein für die Rahmenbedingungen schaffen und scheitere regelmäßig an so einfachen Zusammenhängen... Sich einer Gewerkschaft anzuschließen bedeutet nämlich einen kleinen Teil seines Geldes abzutreten, damit Leute dafür bezahlt werden können, die sich ins Arbeitsrecht vertiefen und den Arbeitgebern bestens ausgebildet in Lohnverhandlungen gegenübertreten können um für mich und viele andere stellvertretend bessere Arbeitsbedingungen auszuverhandeln. Beim Teil "eigenes Geld abgeben" steigen die meisten aus. Der Rest bei "damit andere..."

Wir leben in einer Zeit, wo "Klimaschutz" mit "Autowerbung" verbunden wird, wo Gutmensch ein Schimpfwort und "nett" die kleine Schwester von Scheiße geworden ist. In unserer Zeit ist Solidarität ein zu bekämpfender Wert. Vor allem bekämpfen jene die Solidarität, die sie kurz davor stehen sie selber dringend zu benötigen... nämlich die Solidarität anderer ihnen gegenüber. Es ist erstaunlich, wie ungebildete Arbeiter (ja, dieses Klischee ist heute noch genau so traurige Realität wie vor 100 Jahren - nur das Smartphone macht den Unterschied zu damals) plötzlich Parteien unterstützen die ganz beinhart die Seite der Unternehmer vertreten, die sie offen gegen Solidarität mit Armen und Kranken aussprechen, die offen fordern, Gescheiterte zu Zwangsarbeit zu verdonnern... also Menschen am Rande des Abgrunds unterstützen Parteien die Menschen im Abgrund verfaulen lassen wollen.

Sagt man den Menschen, dass sie mit der Benutzung von MacOS oder Windows den amerikanischen Geheimdienst auf die eigene Festplatte schauen lässt, dass man mit Win10 auf die Rechte an den eigenen Fotos und Dokumenten am eigenen PC zugunsten Microsofts verzichtet und MS sogar zustimmt, sämtliche Passwörter mitzuloggen, herrscht anfangs blankes Entsetzen. Sagt man ihnen "nimm (Debian) Linux, da ist die Wahrscheinlichkeit, dass so etwas passiert wesentlich geringer" nimmt das Entsetzen in den Augen sogar noch zu.
Sagt man einem Unternehmer "Mit der Verwendung von Windows sind die sensiblen Daten deiner Patienten nicht vor dem Zugriff von außen sicher. Mit der Verwendung von Dropbox gehst du das Risiko ein, dass deine geheimen Unterlagen bei Konkurrenten aus den USA wieder auftauchen..." wird man abgewiesen mit "ach so schlimm wirds schon nicht sein".

Ist das nicht alles ziemlich irre?

So, das musste auch mal raus. ;)

lg scientific
dann putze ich hier mal nur...

Eine Auswahl meiner Skripte und systemd-units.
https://github.com/xundeenergie

auch als Debian-Repo für Testing einbindbar:
deb http://debian.xundeenergie.at/xundeenergie testing main

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Re: Aufstehen statt wegducken

Beitrag von rockyracoon » 08.06.2017 08:18:38

@scientific:
Oft überfliege ich lange Posts nur. Deinen habe ich aber mit Interesse und Zustimmung von Anfang bis Ende gelesen. :THX:

Nachträglich auch ein :THX: für hikaru und novalix.

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Re: Aufstehen statt wegducken

Beitrag von Revod » 08.06.2017 10:50:54

Auch mir ist das alles klar, seid Minim. 40 Jahren.
scientific hat geschrieben:Die Träume der Weltverbesserer von damals haben sich allerdings ziemlich in Luft aufgelöst, bzw. zerschellen an der Realität.
...
Und wer formt sich die eigene Realität ( Realität ist relativ )?

Alle wissen wie man es richtig macht, keiner macht's und doch machen alle mit ( Macht- Vermögens gierige... Die Meute wittert die Beute, gefolgt von Irrationalität, Geisteskrankheit usw. oder auch beim Geld hört die Freundschaft auf... ). :wink:
Systemd und PulseAudio, hmmm, nein danke.

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Re: Aufstehen statt wegducken

Beitrag von hikaru » 08.06.2017 11:58:09

maroc hat geschrieben:Wenn Du – im Rückblick – die großen sozialen Bewegungen als naiv entlarvt siehst, so kann ich Dir sogar weitgehend zustimmen, auch wenn sie andererseits ja nicht ganz ohne konkrete Wirkung geblieben sind und ihr Echo noch heute nachklingt.
Aber diese "konkrete Wirkung" hat sich immer darauf beschränkt, den alten Status Quo unter den durch die sozialen Bewegungen erzielten "Errungenschaften" beizubehalten.
Es ging immer darum, den Bürger möglichst weit von politischen Prozessen fernzuhalten. Ab und zu waren ein paar Zugeständisse nötig um den sozialen Frieden aufrecht zu erhalten, aber im Großen und Ganzen hat sich wenig geändert.
maroc hat geschrieben:Im desillusionierten Abschied von den großen Träumen und Ideologien könnte vielleicht aber auch eine Chance liegen: eine Verständigung über alle Gräben hinweg, um in kleinen Schritten das, wie Du es nennst, "realistisch Konstruktive" tatsächlich in Angriff zu nehmen.
Das halte ich für unrealistisch, um nicht zu sagen: naiv. ;)
Und dieser Meinung bin ich genau deshalb:
maroc hat geschrieben:Mittlerweile ist unsere durchindividualisierte Gesellschaft in so viele partikuläre, fluide und sich gegenseitig abstoßende und anziehende Teilkulturen (ja, auch Filterblasen) aufgesplittert, dass ein neuerlicher Aufbruch in der Art der 68er sowieso kaum mehr zu erwarten ist.
Ich hoffe auch, du legst nicht zu viel Gewicht in meine Worte des "realistisch Konstruktiven". Das war meinerseits keine philosophische Verklausilierung irgendeiner greifbar-noblen Idee mit Revolutionsambitionen, sondern nur der eher hilflose Versuch einer Eigenschaftsbeschreibung für etwas das wir für Veränderungen bräuchten, von dem ich aber nicht den blassen Schimmer eines Hauchs einer Ahnung habe, was das sein könnte.
maroc hat geschrieben:Ansätze hierzu sehe ich allerdings zugegebenermaßen kaum: Etablierte Politiker verweigern sich dem direkten Dialog mit (Rechts-)Populisten.
Alles andere würde mich auch überraschen. Politiker (etablierter Parteien) sind für gewöhnlich Gewinner des aktuellen Systems. Aus dieser Position heraus ergibt sich für sie keine Motivation für Systemänderungen.
Rechtspopulisten verkaufen aber gerade die Aussicht auf solche Veränderungen. (Wie ehrlich, realistisch und wünschenswert diese Aussicht ist sei mal dahingestellt.)
maroc hat geschrieben:Frustrierte Bürger wiederum zerreissen genüsslich auf Amazon das Buch eines Ministers als "Machwerk", obwohl sie es mehrheitlich gar nicht gelesen haben (um noch einmal auf den Aufhänger der Diskussion zurückzukommen).
Darauf würde ich nicht viel geben. Diese Rezensionen sind zum Großteil nicht politischer als eine Kneipenschlägerei. Dass das Buch zufällig von einem eher umstrittenen Politiker geschrieben wurde ist hier nur ein dankbares Ventil.
maroc hat geschrieben:Hätte ich noch einen "Traum" frei, so würde er von einer neuen Basiskultur gegenseitigen Respekts handeln, ohne welche die von Dir und auch mir gewünschte größere "Teilhabe der Bevölkerung an politischen Prozessen" kaum je funktionieren oder überhaupt zustande kommen wird.
Meine Unterstützung hättest du.

novalix hat geschrieben:Definiere "naiv"! *scnr*
Guter Punkt!
Lass es mich so versuchen:
1. Naiv ist es, auf Basis seiner eigenen Vorstellungen von einer besseren Welt Forderungen zur Umsetzungen dieser Vorstellungen aufzustellen und durchzusetzen zu versuchen, ohne dabei zu berücksichtigen, dass andere Menschen andere Vorstellungen haben und sich dem Veränderungsprozess entgegenstellen werden. (Das ist so trivial, dass mir kein griffiges Beispiel einfällt.)
2. Falls man 1. noch gemeistert hat indem man erkannt hat, dass es Widerstände zu überwinden gilt, dann ist es trotzdem naiv zu glauben, man könne diese Widerstände mit schierer Menschenmenge an Unterstützern überwinden, ohne zu berücksichtigen, dass man als "der kleine Mann" für gewöhnlich am deutlich kürzeren Hebel sitzt. (Hier ist mMn Occupy gescheitert. "99%" allein reichen nicht für politische Veränderungen.)
3. Falls man auch 2. überwunden hat, indem man sich z.B. in eine vergleichsweise starke Position manövriert hat, die nicht auf Menschenmasse sondern auf Organisation basiert, dann ist es naiv zu glauben, man würde sich in einem fairen Wettbewerb befinden, in dem alle nach den selben Regeln spielen. (U.a. hier ist die Piratenpartei gescheitert.)
novalix hat geschrieben:Die Vorstellung einen Marsch durch die Institutionen anzutreten und hinten so raus zu kommen, wie man vorne rein kam, ist offensichtlich krachend naiv gewesen.
Um es mit Marc-Uwe Kling zu sagen:
Doch die Blumenkinder, wer konnte das ahnen, gingen den Weg aller Bananen:
Heute grün und morgen gelb und übermorgen schwarz
novalix hat geschrieben:Ob Ideen oder Vorgehensweisen tragfähig sind, entscheidet sich vielleicht am Erfolg im Sinne einer abgeschlossenen Handlung, Reform, Revolution, Staatsform oder Maschine.
Ich glaube abgeschlossene Handlungen kann es in dem Kontext nicht geben. Ein einmal erreichter Zustand echter sozialer Gerechtigkeit und allgemeiner politischer Teilhabe wird immer gegen Degeneration verteidigt werden müssen. Und diese Verteidigung halte ich für weitaus schwierigr als das erstmalige Erreichen, denn es muss ständig passieren und es ist im Vergleich zum "heroischen Feiheitskampf" langweilig.
novalix hat geschrieben:Möglicherweise sind aber die Anknüpfungspunkte, auch wenn es nur lose Enden sind, viel wichtiger. Man muß ja nicht alles direkt zu ende bringen. Daraus lernen ist schon nicht wenig.
An losen Enden mangelt es uns nicht. Teilweise denke ich, dass wir nicht weiterkommen, weil wir uns in ihnen verheddern da jeder an einem anderen Ende zieht.

scientific hat geschrieben:Auf der zwischenmenschlichen Ebene hat Egoismus, Patriotismus und Abgrenzung die Ideale von "damals", nämlich Freiheit, Offenheit, Gleichheit und Friede, abgelöst.
Ist dir aufgefallen, dass du die tatsächlich beobachtbaren Verhaltensweisen von heute mit den Idealen von damals vergleichst? Das erregt in mir den Verdacht von Äpfeln und Birnen.
scientific hat geschrieben:Auf die Frage, ob die schimpfenden Diskussionsteilnehmer denn in einer Gewerkschaft für ihre Branche Mitglied wären, bekam ich so gut wie immer ein fassungsloses "Nein, sicher nicht!!!" mit einem Gesichtsausdruck des "wie kannst du es nur wagen, mich in die Nähe einer Gewerkschaft zu bringen???"
Möglicherweise habt ihr nur über verschiedene Gewerkschaften geredet: Du über die Idealtypische, welche die Interessen ihrer zahlenden Mitglieder vertritt, dein Gegenüber über die heute vorherrschende Form von "Gewerkschaften", welche die Interessen ihrer noch viel mehr zahlenden Nicht-Mitglieder vertritt (natürlich nicht offen).
Im Zuge des GDL-Streiks von 2015 hatte ich jedenfalls oft den Eindruck, das viele Leute davon irritiert waren, dass sich eine Gewerkschaft tatsächlich für die Interessen ihrer Mitglieder stark macht. Als ich einem Bekannten GDL-Lokführer damals meinen Respekt für seine Unnachgiebigkeit ausgedrückt habe war er sich zunächst unsicher, ob ich ihn auf den Arm nehmen wollte, denn er hat offenbar nicht damit gerechnet, von jemandem Zuspruch zu erfahren, der selbst kein GDL-Mitglied ist sondern einfach ehrliche Gewerkschaftsarbeit mag.
scientific hat geschrieben:Gibts eine starke Gewerkschaft - also eine mit VIELEN Mitgliedern - hat der Verhandlungspartner Gewerkschaft ggü. den Arbeitgebervertretern wesentlich bessere Karten in der Hand, die wiederum in für die Arbeitnehmer guten Kollektivverträgen münden...
Das gilt nur in der eben erwähnten idealtypischen Gewerkschaft, die meiner Ansicht nach seit dem Ende der 80er stark auf dem Rückzug ist. Insbesondere die Vereinigung von nach Beschäftigungsart getrennten Spartengewerkschaften zu immer größeren "Gewerkschaften für Alles" war da in der Praxis eher schädlich, denn das hat den Aufwand der "externen Beratung" stark reduziert.
scientific hat geschrieben:Wir leben in einer Zeit, wo "Klimaschutz" mit "Autowerbung" verbunden wird, wo Gutmensch ein Schimpfwort und "nett" die kleine Schwester von Scheiße geworden ist.
Orwell nannte das "Neusprech". Wie sehr dieses Konzept der Sprachverwischung in der Realität angekommen ist sollte spätestens seit Merkels "marktkonformer Demokratie" jedem klar sein.
scientific hat geschrieben:In unserer Zeit ist Solidarität ein zu bekämpfender Wert. Vor allem bekämpfen jene die Solidarität, die sie kurz davor stehen sie selber dringend zu benötigen... nämlich die Solidarität anderer ihnen gegenüber. Es ist erstaunlich, wie ungebildete Arbeiter (ja, dieses Klischee ist heute noch genau so traurige Realität wie vor 100 Jahren - nur das Smartphone macht den Unterschied zu damals) plötzlich Parteien unterstützen die ganz beinhart die Seite der Unternehmer vertreten, die sie offen gegen Solidarität mit Armen und Kranken aussprechen, die offen fordern, Gescheiterte zu Zwangsarbeit zu verdonnern... also Menschen am Rande des Abgrunds unterstützen Parteien die Menschen im Abgrund verfaulen lassen wollen.
Ich finde das gar nicht erstaunlich. Zu solchen Verhältnissen kommt man, wenn man mantramäßig "Uns/Dir geht's doch noch relativ gut!" wiederholt. Wenn das Konzept eines vergleichenden Wohlstandsmaßstabes* erst mal verankert ist, dann muss man nur noch (willkürlich) die Grenze zwischen "gut" und "schlecht" ziehen und man kann fast jedem den Eindruck verrmitteln, dass er keinen Grund hat sich nach oben zu beschweren. Denn schließlich ist er ja Teil der Oberschicht und sollte daher seine Energie lieber darauf verwenden die unter ihm stehende Schicht daran zu hindern, ihm seine Privilegien streitig zu machen. Das funktioniert vom gehobenen Mittelstand bis runter zum am Hungertuch nagenden Hartz-4-Empfänger, denn selbst dem kann man immer noch die Flüchtlinge als Feindbild von unten präsentieren. Richtig verkauft fällt dann gar nicht auf, dass der eigentliche Gegner ganz woanders sitzt.


*) "Wohlstand" möchte ich hier nicht auf reine Finanzen reduzieren, sondern auch auf soziale, kulturelle und politische Teilhabe ausdehnen.

maroc

Re: Aufstehen statt wegducken

Beitrag von maroc » 08.06.2017 12:54:15

novalix hat geschrieben:Definiere "naiv"! *scnr*
Mir fallen auf Anhieb mehrere "naivs" ein:
Deine instruktive Beispielsammlung ließ mich noch einmal über den Begriff "naiv" meditieren :wink: ...

Naivität muß nicht unbedingt schlecht sein, mehr davon würde uns manchmal vielleicht sogar gut tun. Der Naive nimmt unbekümmert ein Projekt (meinetwegen auch eine "Weltverbesserung") in Angriff. Wem dagegen der Weg von Selbstzweifeln und klugen Einwänden und lauter Wenn und Aber verstellt ist, gibt auf, bevor er überhaupt begonnen hat. [*]

Und die Zeichnungen oder Gedichte von Kindern sind oft deshalb so großartig, weil sie ohne den Ballast kultureller Vorbildung entstehen. In dem Zusammenhang fällt mir auch die Künstlerin Christa Sauer ein, die das Down-Syndrom hat und die ich doch zu den Größten der zeitgenössischen abstrakten Malerei rechnen würde.
novalix hat geschrieben: Adorno war wohl nicht direkt naiv, nur dermaßen kryptisch, dass er beim besten Willen nicht ernsthaft glauben konnte, man lese seine Bücher, um sie zu verstehen.
Deine Einschätzung zu Adorno würde ich teilen, mindestens eines seiner Werke aber von diesem Verdikt ausnehmen, nämlich die wunderbaren "Minima Moralia". Ich habe das Buch eben nach Jahren wieder zur Hand genommen, aufs Geratewohl aufgeschlagen und gleich dies gelesen:
Der Bürger ist aber tolerant. Seine Liebe zu den Leuten, wie sie sind, entspringt dem Haß gegen den richtigen Menschen.
(Theodor W. Adorno, Minima Moralia)
[*] Nachtrag: Wer seine Naivität verloren hat, dem bleibt die Rückkehr zu ihr allerdings versperrt (von einer beginnenden Demenz einmal abgesehen). Vielleicht bleibt uns dann nur die ewige Revolte gegen das Absurde im Sinne des Camus'schen "Mythos von Sisyphos".
Zuletzt geändert von maroc am 08.06.2017 17:48:41, insgesamt 2-mal geändert.

guennid

Re: Aufstehen statt wegducken

Beitrag von guennid » 08.06.2017 13:40:22


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Re: Aufstehen statt wegducken

Beitrag von ralli » 08.06.2017 17:32:23

hikaru hat geschrieben:
Jochen Malmsheimer hat geschrieben:Nichts war früher besser. Das stimmt nicht! Das ist ein Quadratunsinn!
Was hat der Mann? Recht hat er! ;) [1]
TuxPeter hat geschrieben:Auch wenn ich den Alte-Leute-Nörgelfaktor in Rechnung stelle, so scheint mir doch völlig klar zu sein, dass es in den letzten Jahrzehnten so etwas wie eine schleichende Entsolidarisierung der Gesellschaft gegeben hat.
U.a. dazu hat sich Mausfeld vor gut einem Monat geäußert. [2] (Vorsicht: lang!)

[1] https://www.youtube.com/watch?v=3dR0GpInm0c
[2] https://www.youtube.com/watch?v=AU8hjfhAAxg
Danke @hikaru, wie immer von Mausfeld großartige Aufklärung, ich habe mir das Video heute morgen ganz angesehen. Vieles kannte ich, aber einiges war mir neu.
Wer nicht lieben kann, muß hassen. Wer nicht aufbauen kann muß zerstören. Wer keine Brücken baut, muß spalten.

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Re: Aufstehen statt wegducken

Beitrag von hikaru » 08.06.2017 22:21:25

ralli hat geschrieben:Danke @hikaru, wie immer von Mausfeld großartige Aufklärung
Gern geschehen!
Wie auch immer, Mausfeld ist auch nur ein Mensch und hat auch nicht ganz so großartige Momente, wie sein Vortrag "Die Angst der Machteliten vor dem Volk" [1] zeigt. Der Vortrag nimmt Vieles von "Wie werden Meinung und Demokratie gesteuert" vorweg.
Er könnte in der ersten halben Stunde aber mehr Nachweise für die aufgestellten Behauptungen vertragen, verliert sich phasenweise in unnötigem Antiamerikanismus und schließt in einer Art die ich mit einem Wort beschreiben würde, das du gar nicht magst. ;)

[1] http://www.youtube.com/watch?v=Rk6I9gXwack

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Re: Aufstehen statt wegducken

Beitrag von rockyracoon » 08.06.2017 22:39:39

@hikaru:
Ich habe jetzt den Vortrag von Professor Mausfeld genau mitgehört.
Er rührt mich sehr an und ist in vielen Aspekten genial klar und stimmig.
Kleine, enorm profitierende Minderheiten steuern bewußt die Medien. Richtig.
Nur ein aufgeklärtes und gebildetes Volk kann Demokratie ausüben. Richtig.

Mir fehlt aber immer etwas. Nämlich die Hinterfragung der fast zwangsläufigen autodestruktiven Eigendynamik der Finanzsysteme.
Stichwort: Wachstumszwang. Und damit keine Möglichkeit zur Ruhe, zur Konsolidierung, zum Gleichgewicht zu kommen.
Die Geldwirtschaft "funktioniert" also wie Heroinsucht. Einige Zeit scheint es gutzugehen, dann dekompensiert der Prozeß.
Früher gab es in den dadurch auftretenden zyklischen Krisen Kolonialismus, Seuchen oder Kriege. Danach lief wieder alles prächtig, weil Wachstum stattfand. Heute droht aufgrund der technischen und bevölkerungsstatistischen Dimensionen der Planet zu kollabieren.

Neben der Veränderung des menschlichen Bewußtseins weg vom Egoismus hin zur Solidarität fehlt aus meiner Sicht also ein homöostasefähiges Wirtschaftsmodell, jenseits von Diktatur oder Wildwuchs.

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Re: Aufstehen statt wegducken

Beitrag von scientific » 09.06.2017 00:51:45

rockyracoon hat geschrieben:@hikaru:
Ich habe jetzt den Vortrag von Professor Mausfeld genau mitgehört.
Er rührt mich sehr an und ist in vielen Aspekten genial klar und stimmig.
Kleine, enorm profitierende Minderheiten steuern bewußt die Medien. Richtig.
Nur ein aufgeklärtes und gebildetes Volk kann Demokratie ausüben. Richtig.

Mir fehlt aber immer etwas. Nämlich die Hinterfragung der fast zwangsläufigen autodestruktiven Eigendynamik der Finanzsysteme.
Stichwort: Wachstumszwang. Und damit keine Möglichkeit zur Ruhe, zur Konsolidierung, zum Gleichgewicht zu kommen.
Die Geldwirtschaft "funktioniert" also wie Heroinsucht. Einige Zeit scheint es gutzugehen, dann dekompensiert der Prozeß.
Früher gab es in den dadurch auftretenden zyklischen Krisen Kolonialismus, Seuchen oder Kriege. Danach lief wieder alles prächtig, weil Wachstum stattfand. Heute droht aufgrund der technischen und bevölkerungsstatistischen Dimensionen der Planet zu kollabieren.

Neben der Veränderung des menschlichen Bewußtseins weg vom Egoismus hin zur Solidarität fehlt aus meiner Sicht also ein homöostasefähiges Wirtschaftsmodell, jenseits von Diktatur oder Wildwuchs.
Ein Professor mit viel Weitblick erzählte uns in der Vorlesung einst:
"Es sind nicht die besten, die sich in der Wirtschaft durchsetzen. Sondern es setzen sich die größten durch. Jene Unternehmen die genug Kapital haben um auch längere Zeiten eines vernichtenden Preiskampfes durchzutauchen. Jene Unternehmen gewinnen, die am längsten die Luft anhalten können. Dann sterben kleinere Unternehmen mit niedrigerer Kapitaldecke weg und die großen bleiben übrig!"

Prinzipiell funktioniert unser Wirtschaftssystem ja durchaus gut. Aber es müssten ein paar Randbedingungen verändert werden.
Eine davon wäre z.B. dass Handelsunternehmen bei der Betriebsgenehmigung eine Auflage erhalten, dass nach dem Beenden des Betriebs der Ursprungszustand wieder hergestellt werden muss. Wie bei Eisenbahnen. Wird eine Bahn eingestellt, so ist die Bahngesellschaft dazu verpflichtet, Dämme abzutragen, Einschnitte aufzufüllen und Brücken zu entfernen, damit man nachher nicht mehr erkennt, dass da jemals eine Bahn gefahren ist. Ergibt sich eine sinnvolle Nachnutzung für die Bahntrasse, kann man von einer Renaturierung absehen.

Würde z.B. für Supermärkte eine ähnliche Regelung gelten, müssten sich die großen Handelsketten gut überlegen, ihre Einkaufshallen in der grünen Wiese einfach nur zuzusperren und 100m weiter die nächste zu errichten.
Weiters könnte man auch mit der Steuergesetzgebung schon einiges erreichen. Gingen Gewerbesteuern nicht an die Gemeinde, sondern an das Land oder den Bund, der wiederum die Gelder an die Gemeinden verteilt, könnten Gemeinden nicht gegeneinander ausgespielt werden von den Konzernen, ob das Einkaufzentrum dies- oder jenseits der Gemeindegrenze erreichtet wird. Je nachdem wo es bessere steuerliche Konditionen und Förderungen gibt. Denn Gemeinden müssen ja derzeit dringend nach Einkommensquellen in Form von Gewerbebetrieben ringen...
Eine Raumplanung, welche auch Sanktionsmöglichkeiten hat kombiniert damit dass die oberste Baubehörde nicht mehr der Bürgermeister ist, sondern eine Stelle auf Landes- oder Bundesebene. Bürgermeister müssen Wählerstimmen fangen... und mit Gefälligkeitswidmungen geht das nunmal prächtig... Das zerstört aber langfristig Land und um Umwelt und die ganze Infrastruktur. Und die Schäden im Katastrophenfalle werden höher und höher, da viel zuviele Häuser und Betriebe in Schutzzonen erlaubt wurden und werden...

Es müssen die Verwaltungseinheiten den Wirtschaftlichen Gegebenheiten angepasst werden. Wenn es internationale Unternehmen gibt, die mehr Gewinn im Jahr schreiben, als einzelne Staaten Budget haben, dann weiß man auch, wer mit wem Schlitten fährt. Dann sind so Regelungen wie die nichtstaatlichen Schiedsgerichte bei TTIP keine Überraschung...
Aber unsere Rechten in Europa und den USA haben schon lange an der Unterwanderung der Glaubwürdigkeit des Rechtsstaates mit FUD gesägt sodass es kein Wunder ist, dass der Aufschrei über die Sondergerichte ein kleiner ist, da zuviele nicht mehr in den Rechtsstaat vertrauen...

lg scientific
dann putze ich hier mal nur...

Eine Auswahl meiner Skripte und systemd-units.
https://github.com/xundeenergie

auch als Debian-Repo für Testing einbindbar:
deb http://debian.xundeenergie.at/xundeenergie testing main

BenutzerGa4gooPh

Re: Aufstehen statt wegducken

Beitrag von BenutzerGa4gooPh » 09.06.2017 08:45:29

hikaru hat geschrieben:Rechtspopulisten verkaufen aber gerade die Aussicht auf solche Veränderungen. (Wie ehrlich, realistisch und wünschenswert diese Aussicht ist sei mal dahingestellt.)
Gibt wohl auch erfolgreiche Populisten der Mitte. Und diese dominieren erfolgreich Medien. Die Ergebnisse der letzten Landtagswahlen mit gestiegener Wahlbeteiligung aber nahezu gleichen Ergebnissen für die Etablierten zeigen das. M. E. half (auch) die ständige, übertriebene (?) Panikmache vor Rechtspopulisten. Fragt sich nur wessen (ungewollte) Kinder diese sind.
hikaru hat geschrieben:Um es mit Marc-Uwe Kling zu sagen:
Doch die Blumenkinder, wer konnte das ahnen, gingen den Weg aller Bananen:
Heute grün und morgen gelb und übermorgen schwarz
Prima Zitat in dem Zusammenhang! Etliche "Blumenkinder" (68er) waren und sind aufgestiegen und haben sich sehr verändert. Otto Schily beispielsweise. Manchmal denke ich, die lachen über die von ihnen beherrschten, unpolitischen, resignierten, feigen, materialistischen Nachfolge-Generationen von Egozentrikern - die sich damit selbst in's Bein schießen.
maroc hat geschrieben:Vielleicht ist uns Heutigen die subversive Fähigkeit zum Träumen abhanden gekommen ...
:THX:
rockyracoon hat geschrieben:Mir fehlt aber immer etwas. Nämlich die Hinterfragung der fast zwangsläufigen autodestruktiven Eigendynamik der Finanzsysteme.
Stichwort: Wachstumszwang.
Genau! Schröders und Merkels "marktkonforme Demokratie"??? Und Herr Maas mit seinem Ministerium und als Werkzeug arbeitet im Auftrag an der Einschüchterung des Volkes durch BND-Gesetz, Vorratsdatenspeicherung, Überwachungsmaßnahmen, Einschränkungen von Redefreiheit im Internet durch absehbar übervorsichtige Privatfirmen in vorauseilendem Gehorsam, "Abspeckung" der EU-Datenschutz-Richtlinie in Richtung zahnloser Tiger. Dafür hat er (auch stellvertretend für andere) etwas Häme oder Zynismus verdient. Wer im Glashaus sitzt, sollte nun mal keine Steine werfen. Maas' Steine könnte man ebenfalls als Häme oder Zynismus werten. Zumindest als Provokation und willkommenes Ventil wurde es offensichtlich aufgefasst. Gibt allerdings bessere, aber offensichtlich keine wirkungsvollen Ventile. Die Landtags-Wahlergebnisse zeigen ja: Alles gut - für die noch einigermaßen wohlständige Masse. :facepalm:

@scientific: Die GDL wurde ja nun erst medial verpönt (laufend Kommentare von Reisenden usw.) und dann per Gesetz wirkungslos gemacht. Die Amazon-Streiks finde ich ja allmählich lächerlich. Absichtlich zahnlos? Warum nicht komplette Bestreikung, alle Filailen, Streikposten, dauerhaft bis zu "Endlösung"? Amazon würde davon wohl nicht pleite gehen - aber einlenken. Die Streikkassen ALLER Gewerkschaften müssten heutzutage überquellen. Zahlungen für zahnlose Tiger machen wohl nur Zirkusse gern. :wink:
Zuletzt geändert von BenutzerGa4gooPh am 09.06.2017 11:57:36, insgesamt 2-mal geändert.

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Re: Aufstehen statt wegducken

Beitrag von hikaru » 09.06.2017 11:33:26

maroc hat geschrieben:[*] Nachtrag: Wer seine Naivität verloren hat, dem bleibt die Rückkehr zu ihr allerdings versperrt (von einer beginnenden Demenz einmal abgesehen). Vielleicht bleibt uns dann nur die ewige Revolte gegen das Absurde im Sinne des Camus'schen "Mythos von Sisyphos".
Wobei natürlich die Revolte gegen das Absurde selbst absurd ist. Ob das im Sinne von Camus erstrebenswert wäre vermag ich nicht zu beurteilen.

Ich glaube aber, dass Camus trotz der unbestreitbaren Eleganz seines Konzepts des Absurdismus einen entscheidenden Fehler gemacht hat. Er kommt ja zu dem Schluss, dass Sisyphos trotz seines absurden Tuns insgesamt ein glücklicher Mensch war. Ich glaube das ist nicht richtig. Er hatte sicher glückliche Momente wenn er sich auf dem Weg bergab auf einer grünen Wiese in die Sonne legte. Aber das tat er immer in dem Wissen, das er im nächsten Moment den Stein wieder Berg hinaufrollen würde. Wenn er dabei kein Glück empfand, dann muss er sich der Absurdität seines Lebens bewusst gewesen sein, was sich mMn nicht mit einem glücklichen Leben (sondern nur glücklichen Momenten innerhalb eines absurden Lebens) verträgt. Wenn er beim Hinaufrollen Glück empfand (z.B. weil er es als sportliche Herausforderung schätzte), dann war sein Leben sicher glücklich, aber nicht absurd.

rockyracoon hat geschrieben:Mir fehlt aber immer etwas. Nämlich die Hinterfragung der fast zwangsläufigen autodestruktiven Eigendynamik der Finanzsysteme.
Ich habe das bisher bei Mausfeld nicht vermisst, weil ich es nicht als seine Domäne betrachtet habe. Vielleicht kommt noch sowas von ihm, aber ich denke, das Thema ist weit genug verbreitet, das er auf eine eigene Behandlung auch verzichten könnte.
rockyracoon hat geschrieben:Stichwort: Wachstumszwang. Und damit keine Möglichkeit zur Ruhe, zur Konsolidierung, zum Gleichgewicht zu kommen.
Die Geldwirtschaft "funktioniert" also wie Heroinsucht. Einige Zeit scheint es gutzugehen, dann dekompensiert der Prozeß.
Früher gab es in den dadurch auftretenden zyklischen Krisen Kolonialismus, Seuchen oder Kriege. Danach lief wieder alles prächtig, weil Wachstum stattfand. Heute droht aufgrund der technischen und bevölkerungsstatistischen Dimensionen der Planet zu kollabieren.
Ich betrachte die Krisen als inneren Teil des Systems Kapitalismus, nicht als äußere Störung. Insofern ist der Prozess im Gleichgewicht, nur sind die Schwankungszyklen mit Perioden mehrerer Jahrzehnte zu lang, als dass wir das als Gleichgewicht wahrnehmen würden.
Der "planetare Kollaps" wie du ihn nennst ist dabei vielleicht nur die nächste Krise, die einen neuen Zyklus des Kapitalismus einleiten wird. Es wird ja mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Welt nach dem Kollaps geben. Vielleicht werden die Lebensbedingungen aufgrund von Ressourcenausbeutung, Umweltverschmutzung und Klimawandel deutlich schlechter sein und es wird möglicherweise Millionen von Toten geben, aber das stört ja den Kapitalismus nicht.
rockyracoon hat geschrieben:Neben der Veränderung des menschlichen Bewußtseins weg vom Egoismus hin zur Solidarität fehlt aus meiner Sicht also ein homöostasefähiges Wirtschaftsmodell, jenseits von Diktatur oder Wildwuchs.
Ich bin mir nicht sicher, ob der Mensch zu wahrer Solidarität fähig ist. Das war wir gemeinhin als Solidarität bezeichnen beschränkt sich eigentlich immer auf kleine Gruppen die sich persönlich kennen (siehe Dunbar-Zahl) oder entsteht aus einer externen Notwendigkeit heraus und bricht auch mit dem Wegfall der Notwendigkeit wieder zusammen.
Viele ehemalige DDR-Bürger beklagen z.B. den Verlust von Solidarität nach der Wende. Dabei lassen sie aber oft außer acht, dass diese Solidarität im Wesentlichen auf einem Mangelzustand fußte, der es erforderlich machte sich solidarisch zu verhalten um erfolgreich am Tauschhandel teilnehmen zu können. Nachdem der Mangel und somit auch das Tauschhandelssystem verschwand, gab es keine Notwendigkeit mehr für die darauf aufbauende Solidarität.

scientific hat geschrieben:Prinzipiell funktioniert unser Wirtschaftssystem ja durchaus gut. Aber es müssten ein paar Randbedingungen verändert werden.
Eine davon wäre z.B. dass Handelsunternehmen bei der Betriebsgenehmigung eine Auflage erhalten, dass nach dem Beenden des Betriebs der Ursprungszustand wieder hergestellt werden muss. Wie bei Eisenbahnen.
Das funktioniert nur bei standortgebundenen Unternehmen. Eine Eisnbahnstrecke muss an genau dieser Stelle (zwischen A und B) errichtet werden, sonst kann sie ihren wirtschaftlichen Zweck (Geld mit dem Transport von Menschen/Gütern von A nach B verdienen) nicht erfüllen. Ein Unternehmen das nicht an einen bestimmten Standort gebunden ist könnte auf Alternativstandorte ausweichen, wo es die Auflage der Wiederherstellung nicht gibt. Das Fehlen der Auflage wäre dann für den Alternativstandort ein Standortvorteil. Solche Prozesse sehen wir z.B. in Steueroasen.

Jana66 hat geschrieben:Gibt wohl auch erfolgreiche Populisten der Mitte. Und diese dominieren erfolgreich Medien.
Ja, aber die haben andere Ziele als Rechtspopulisten. Rechts- und übrigens auch Linkspopulisten sind darauf aus, (echte oder vermeintliche) Probleme zu thematisieren und aus diesen Problemen eine Notwendigkeit zu Veränderungen (in ihrem Interesse) zu begründen. Populisten der Mitte dementieren entweder die Existenz oder das Gewicht der identifizierten Probleme und leiten daraus ab, dass der aktuelle politische Kurs im Wesentlichen richtig ist.
Diese beiden Positionen sind nicht vereinbar, daher kommt für gewöhnlich kein Dialog zustande.

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