maroc hat geschrieben:Wenn Du – im Rückblick – die großen sozialen Bewegungen als naiv entlarvt siehst, so kann ich Dir sogar weitgehend zustimmen, auch wenn sie andererseits ja nicht ganz ohne konkrete Wirkung geblieben sind und ihr Echo noch heute nachklingt.
Aber diese "konkrete Wirkung" hat sich immer darauf beschränkt, den alten Status Quo unter den durch die sozialen Bewegungen erzielten "Errungenschaften" beizubehalten.
Es ging immer darum, den Bürger möglichst weit von politischen Prozessen fernzuhalten. Ab und zu waren ein paar Zugeständisse nötig um den sozialen Frieden aufrecht zu erhalten, aber im Großen und Ganzen hat sich wenig geändert.
maroc hat geschrieben:Im desillusionierten Abschied von den großen Träumen und Ideologien könnte vielleicht aber auch eine Chance liegen: eine Verständigung über alle Gräben hinweg, um in kleinen Schritten das, wie Du es nennst, "realistisch Konstruktive" tatsächlich in Angriff zu nehmen.
Das halte ich für unrealistisch, um nicht zu sagen: naiv.
Und dieser Meinung bin ich genau deshalb:
maroc hat geschrieben:Mittlerweile ist unsere durchindividualisierte Gesellschaft in so viele partikuläre, fluide und sich gegenseitig abstoßende und anziehende Teilkulturen (ja, auch Filterblasen) aufgesplittert, dass ein neuerlicher Aufbruch in der Art der 68er sowieso kaum mehr zu erwarten ist.
Ich hoffe auch, du legst nicht zu viel Gewicht in meine Worte des "realistisch Konstruktiven". Das war meinerseits keine philosophische Verklausilierung irgendeiner greifbar-noblen Idee mit Revolutionsambitionen, sondern nur der eher hilflose Versuch einer Eigenschaftsbeschreibung für etwas das wir für Veränderungen bräuchten, von dem ich aber nicht den blassen Schimmer eines Hauchs einer Ahnung habe, was das sein könnte.
maroc hat geschrieben:Ansätze hierzu sehe ich allerdings zugegebenermaßen kaum: Etablierte Politiker verweigern sich dem direkten Dialog mit (Rechts-)Populisten.
Alles andere würde mich auch überraschen. Politiker (etablierter Parteien) sind für gewöhnlich Gewinner des aktuellen Systems. Aus dieser Position heraus ergibt sich für sie keine Motivation für Systemänderungen.
Rechtspopulisten verkaufen aber gerade die Aussicht auf solche Veränderungen. (Wie ehrlich, realistisch und wünschenswert diese Aussicht ist sei mal dahingestellt.)
maroc hat geschrieben:Frustrierte Bürger wiederum zerreissen genüsslich auf Amazon das Buch eines Ministers als "Machwerk", obwohl sie es mehrheitlich gar nicht gelesen haben (um noch einmal auf den Aufhänger der Diskussion zurückzukommen).
Darauf würde ich nicht viel geben. Diese Rezensionen sind zum Großteil nicht politischer als eine Kneipenschlägerei. Dass das Buch zufällig von einem eher umstrittenen Politiker geschrieben wurde ist hier nur ein dankbares Ventil.
maroc hat geschrieben:Hätte ich noch einen "Traum" frei, so würde er von einer neuen Basiskultur gegenseitigen Respekts handeln, ohne welche die von Dir und auch mir gewünschte größere "Teilhabe der Bevölkerung an politischen Prozessen" kaum je funktionieren oder überhaupt zustande kommen wird.
Meine Unterstützung hättest du.
novalix hat geschrieben:Definiere "naiv"! *scnr*
Guter Punkt!
Lass es mich so versuchen:
1. Naiv ist es, auf Basis seiner eigenen Vorstellungen von einer besseren Welt Forderungen zur Umsetzungen dieser Vorstellungen aufzustellen und durchzusetzen zu versuchen, ohne dabei zu berücksichtigen, dass andere Menschen andere Vorstellungen haben und sich dem Veränderungsprozess entgegenstellen werden. (Das ist so trivial, dass mir kein griffiges Beispiel einfällt.)
2. Falls man 1. noch gemeistert hat indem man erkannt hat, dass es Widerstände zu überwinden gilt, dann ist es trotzdem naiv zu glauben, man könne diese Widerstände mit schierer Menschenmenge an Unterstützern überwinden, ohne zu berücksichtigen, dass man als "der kleine Mann" für gewöhnlich am deutlich kürzeren Hebel sitzt. (Hier ist mMn Occupy gescheitert. "99%" allein reichen nicht für politische Veränderungen.)
3. Falls man auch 2. überwunden hat, indem man sich z.B. in eine vergleichsweise starke Position manövriert hat, die nicht auf Menschenmasse sondern auf Organisation basiert, dann ist es naiv zu glauben, man würde sich in einem fairen Wettbewerb befinden, in dem alle nach den selben Regeln spielen. (U.a. hier ist die Piratenpartei gescheitert.)
novalix hat geschrieben:Die Vorstellung einen Marsch durch die Institutionen anzutreten und hinten so raus zu kommen, wie man vorne rein kam, ist offensichtlich krachend naiv gewesen.
Um es mit Marc-Uwe Kling zu sagen:
Doch die Blumenkinder, wer konnte das ahnen, gingen den Weg aller Bananen:
Heute grün und morgen gelb und übermorgen schwarz
novalix hat geschrieben:Ob Ideen oder Vorgehensweisen tragfähig sind, entscheidet sich vielleicht am Erfolg im Sinne einer abgeschlossenen Handlung, Reform, Revolution, Staatsform oder Maschine.
Ich glaube abgeschlossene Handlungen kann es in dem Kontext nicht geben. Ein einmal erreichter Zustand echter sozialer Gerechtigkeit und allgemeiner politischer Teilhabe wird immer gegen Degeneration verteidigt werden müssen. Und diese Verteidigung halte ich für weitaus schwierigr als das erstmalige Erreichen, denn es muss ständig passieren und es ist im Vergleich zum "heroischen Feiheitskampf" langweilig.
novalix hat geschrieben:Möglicherweise sind aber die Anknüpfungspunkte, auch wenn es nur lose Enden sind, viel wichtiger. Man muß ja nicht alles direkt zu ende bringen. Daraus lernen ist schon nicht wenig.
An losen Enden mangelt es uns nicht. Teilweise denke ich, dass wir nicht weiterkommen, weil wir uns in ihnen verheddern da jeder an einem anderen Ende zieht.
scientific hat geschrieben:Auf der zwischenmenschlichen Ebene hat Egoismus, Patriotismus und Abgrenzung die Ideale von "damals", nämlich Freiheit, Offenheit, Gleichheit und Friede, abgelöst.
Ist dir aufgefallen, dass du die tatsächlich beobachtbaren Verhaltensweisen von heute mit den Idealen von damals vergleichst? Das erregt in mir den Verdacht von Äpfeln und Birnen.
scientific hat geschrieben:Auf die Frage, ob die schimpfenden Diskussionsteilnehmer denn in einer Gewerkschaft für ihre Branche Mitglied wären, bekam ich so gut wie immer ein fassungsloses "Nein, sicher nicht!!!" mit einem Gesichtsausdruck des "wie kannst du es nur wagen, mich in die Nähe einer Gewerkschaft zu bringen???"
Möglicherweise habt ihr nur über verschiedene Gewerkschaften geredet: Du über die Idealtypische, welche die Interessen ihrer zahlenden Mitglieder vertritt, dein Gegenüber über die heute vorherrschende Form von "Gewerkschaften", welche die Interessen ihrer noch viel mehr zahlenden Nicht-Mitglieder vertritt (natürlich nicht offen).
Im Zuge des GDL-Streiks von 2015 hatte ich jedenfalls oft den Eindruck, das viele Leute davon irritiert waren, dass sich eine Gewerkschaft tatsächlich für die Interessen ihrer Mitglieder stark macht. Als ich einem Bekannten GDL-Lokführer damals meinen Respekt für seine Unnachgiebigkeit ausgedrückt habe war er sich zunächst unsicher, ob ich ihn auf den Arm nehmen wollte, denn er hat offenbar nicht damit gerechnet, von jemandem Zuspruch zu erfahren, der selbst kein GDL-Mitglied ist sondern einfach ehrliche Gewerkschaftsarbeit mag.
scientific hat geschrieben:Gibts eine starke Gewerkschaft - also eine mit VIELEN Mitgliedern - hat der Verhandlungspartner Gewerkschaft ggü. den Arbeitgebervertretern wesentlich bessere Karten in der Hand, die wiederum in für die Arbeitnehmer guten Kollektivverträgen münden...
Das gilt nur in der eben erwähnten idealtypischen Gewerkschaft, die meiner Ansicht nach seit dem Ende der 80er stark auf dem Rückzug ist. Insbesondere die Vereinigung von nach Beschäftigungsart getrennten Spartengewerkschaften zu immer größeren "Gewerkschaften für Alles" war da in der Praxis eher schädlich, denn das hat den Aufwand der "externen Beratung" stark reduziert.
scientific hat geschrieben:Wir leben in einer Zeit, wo "Klimaschutz" mit "Autowerbung" verbunden wird, wo Gutmensch ein Schimpfwort und "nett" die kleine Schwester von Scheiße geworden ist.
Orwell nannte das "Neusprech". Wie sehr dieses Konzept der Sprachverwischung in der Realität angekommen ist sollte spätestens seit Merkels "marktkonformer Demokratie" jedem klar sein.
scientific hat geschrieben:In unserer Zeit ist Solidarität ein zu bekämpfender Wert. Vor allem bekämpfen jene die Solidarität, die sie kurz davor stehen sie selber dringend zu benötigen... nämlich die Solidarität anderer ihnen gegenüber. Es ist erstaunlich, wie ungebildete Arbeiter (ja, dieses Klischee ist heute noch genau so traurige Realität wie vor 100 Jahren - nur das Smartphone macht den Unterschied zu damals) plötzlich Parteien unterstützen die ganz beinhart die Seite der Unternehmer vertreten, die sie offen gegen Solidarität mit Armen und Kranken aussprechen, die offen fordern, Gescheiterte zu Zwangsarbeit zu verdonnern... also Menschen am Rande des Abgrunds unterstützen Parteien die Menschen im Abgrund verfaulen lassen wollen.
Ich finde das gar nicht erstaunlich. Zu solchen Verhältnissen kommt man, wenn man mantramäßig "Uns/Dir geht's doch noch relativ gut!" wiederholt. Wenn das Konzept eines vergleichenden Wohlstandsmaßstabes* erst mal verankert ist, dann muss man nur noch (willkürlich) die Grenze zwischen "gut" und "schlecht" ziehen und man kann fast jedem den Eindruck verrmitteln, dass er keinen Grund hat sich nach oben zu beschweren. Denn schließlich ist er ja Teil der Oberschicht und sollte daher seine Energie lieber darauf verwenden die unter ihm stehende Schicht daran zu hindern, ihm seine Privilegien streitig zu machen. Das funktioniert vom gehobenen Mittelstand bis runter zum am Hungertuch nagenden Hartz-4-Empfänger, denn selbst dem kann man immer noch die Flüchtlinge als Feindbild von unten präsentieren. Richtig verkauft fällt dann gar nicht auf, dass der eigentliche Gegner ganz woanders sitzt.
*) "Wohlstand" möchte ich hier nicht auf reine Finanzen reduzieren, sondern auch auf soziale, kulturelle und politische Teilhabe ausdehnen.