Es ist klamm, es ist kalt und der lokal zuständige Wettergott kann sich nicht entschließen, ob er die Sintflut lieber mit Starkregen oder einem Schneesturm einleiten will. Wichtig ist ihm nur, dass die Nässe immer direkt von vorne ins Gesicht klatscht. Den Festplatten in meinem Rucksack geht es wesentlich besser. Sie befinden sich in einer gemütlichen, trockenen Höhle aus Schaumstoff, welcher wiederum in einer wasserdichten Box eingemümmelt ist.
Als ich endlich das Büro weit draußen in den unerforschten Straßen eines total aus der Mode gekommenen Gewerbegebietes des westlichen Ruhrgebietes erreiche, bin ich pitschnass und durchgefroren. Der Chef des mittelständischen Unternehmens begrüßt mich überschwenglich. Offensichtlich kann er es gar nicht erwarten, dass ich endlich den Server der Firma in Schuss bringe.
Auf einer kleinen Kommode befindet sich ein ringförmiges Gebilde aus grünfarbiger Flora, in der vier Zylinder aus Paraffin stecken, die alle an oben herausragenden Dochten entzündet sind. "Aha", sage ich zu mir selbst, während ich kurz die Situation in einer begreiflichen Sprache analysiere:
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#include <stdio.h>
#include <unistd.h>
int main()
{
int lichtlein;
for (lichtlein=1; lichtlein < 4; ++lichtlein) {
printf("Advent, Advent %i Lichtlein brenn%s.\n", lichtlein, lichtlein==1?"t":"en");
sleep(60*60*24*7);
}
printf("Weihnachten steht vor der Tür!\n");
}
Langsam - während meine durchweichten Knochen auftauen - komme ich wieder in der Welt der Lebenden an. Es ist nicht alles IT, man kann ein Script auch einfach mal ein Script sein lassen. Es gibt ja auch noch das Soziale, das Menschliche, das Warme, das Herzliche.
Dankbar nippe ich an meinem Glühwein. Dann werfe ich kurz einen Gruß in die Runde der Feiernden und verabschiede mich in den Keller, wo der Server steht, der heute morgen eine seiner Festplatten verspeist hat.
Ein kurzer Blick auf "Knecht" (mein mobiler Taschencomputer, der sich per VPN mit meiner heimischen Datenbank verbindet) bestätigt, dass mich keine Überraschungen erwarten können: Vor mir sollte ein mit Software-RAID 5 eingerichteter Server stehen, 4 HDD-Platten à 8TB und eine Spare-Platte, die für eine kaputte eingesprungen ist. Sollte ja schnell erledigt sein.
Ich öffne das kleine Schränkchen, in dem der Server steht und erblicke - o Schock, o Graus! - vier wild im prächtigstem Rot blinkende LEDs. Eine weitere blickt mir schläfrig zufrieden in gesundem Grün entgegen.
Vier Platten platt? Also 4, um nicht zu sagen four, cuatro, quatre, четыре, IV?
Ich reibe meine Augen. Noch mal schnell meine Mails checken... also Ordner "Hardware-Überwachung", Firma XXX... und da steht... Mist!
Ich soll doch morgens nicht vor dem ersten Kaffee mit der Arbeit beginnen! Eine kaputte Platte war da durchaus protokolliert, aber da noch eine und hier noch eine weitere Alarm-Mail und zu guter Letzt noch die Bestätigung des finalen Server-KOs. Alle Mails schön untereinander aufgelistet, und ich habe nur die erste davon im Halbschlaf wahrgenommen.
Inzwischen taucht der Praktikant bei mir im Keller auf. "Alles in Ordnung?" fragt er etwas kleinlaut. Resigniert schüttel ich den Kopf. Aber als mein Blick nochmals auf den Server fällt, stelle ich fest, dass sich die Staubknäuel in dem kleinen Schränkchen ein paar Zentimeter neben dem Gerätegehäuse befinden. Ein ungeheurer Verdacht keimt in mir auf. Aber zunächst gilt es, mit detektivischem Gespür ein paar Fakten zu sammeln.
"Sieht so aus, als hätte der Server einen Totalausfall", eröffne ich dem Praktikanten. "Ich muss den wohl rauskramen und ein wenig rumbasteln. Ihr habt nicht zufällig noch ein Verlängerungskabel übrig? Dann könnte ich die Kiste da vorne auf dem Tisch abstellen und einfacher werkeln."
Der Praktikant läuft rot an: "Ne, die langen Kabel sind alle oben..."
"... für die Glühweinkocher und die Musikanlage", ergänze ich, während ich ihn mit meinen Augen versuche zu röntgen.
"Ja, ich kann mal oben schauen, eins können wir bestimmt entbehren."
Der Mann hat eindeutig ein schlechtes Gewissen, und weil in mir eine kleine, schwarze Seele steckt, lege ich noch mal nach: "Am Besten das Kabel, welches hier im Schränkchen steckte."
"Wel... welches?" Herrje, wie weiß kann ein Gesicht eigentlich werden?
"Na, das Kabel, wo heute morgen noch der Server dransteckte. Weißt schon: 10 Meter lang, blau, mit einem grünen Etikett dran, ganz einfach wiederzuerkennen. Ich hab da so meine Standards, wenn ich Hardware und Verkabelung bei meinen Kunden verbaue."
Langer Rede kurzer Sinn: Eigentlich ist er ganz cool drauf. Als man beim Aufbau für die Weihnachtsparty bemerkte, dass die Kabel nicht ausreichten, hat der einzige, der den Notstand lösen konnte, die Initiative ergriffen. Eben die Person, die man in so einer Firma durch die Gegend scheucht, um Kaffee zu kochen, verhakte Jalousien zu entknoten, Ratten zu vertreiben und Kühlschränke durchs enge Treppenhaus zu schleppen. Genau die Person, die ganz genau weiß, wo Schraubenzieher liegen, Rohrzangen versteckt und Verlängerungskabel aufzutreiben sind.
Er hat also den Server runtergefahren, das Gerät rausgekramt, das lange Kabel gegen ein kurzes getauscht und dann den Server neu gestartet. Und dann fiel ihm ein, dass man die Kiste am Besten wieder im Schrank verstaut, bevor sich ein Pärchen, das sich hier im schummrigen Halbdunkel nach ein wenig Ruhe sehnt, auf dem Gerät bei zweckentfremdeter Nutzung sämtliche Nackenwirbel bricht.
Kurz bevor er den Apparat sauber absetzen konnte, bekam er einen Krampf und der steinzeitliche, zentnerschwere "Ungoliant MegaXXL" entglitt im laufenden Betrieb seinen Händen - mitsamt seinen rotierenden HDD-Festplatten. Kleine, zarte Festplattenköpfchen durchflogen etliche Nanometer in der heliumhaltigen Atmosphäre, schlugen mit brutaler Härte auf die Oberflächen ein und rammten eine Schneise der Verwüstung in ganze Megen und Gigen von unschuldigen Bits - Kettensägenmassaker nix dagegen.
Sowas hält das beste RAID nicht aus.
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"Ein Raid ist kein Backup", erkläre ich zum wiederholten Male dem Chef, dem es eher schlecht als recht gelingt, die Fassung zu bewahren. Aber im Sinne von Frieden und Völkerverständigung, einträglichen Geschäftsbeziehungen und der Tatsache, dass er mit den Nerven schon fertig genug ist, erspare ich ihm meinen Lieblingsspruch "No backup, no mercy".
Vielmehr geht es darum, den Schaden zu minimieren und die Lage zu durchschauen. Aufräumen beginnt immer erst mal im Kopf. "Sehen Sie es mal so: Gerade weil die Firma auf einem ehemaligen Zechengelände in einem Bergschädengebiet steht, haben Sie sich doch komplett dagegen versichert, und genau hier greift ihre Versicherungs-Police voll. Das kriegen Sie doppelt und dreifach wieder raus - inclusive des verlorengegangenen Arbeitsaufwandes. Dass so ein Beben Festplatten schrottet, ist selbst den Bürokraten von der "Bremen-Stuttgarter" bekannt. Und wenn Sie schon mal dabei sind, würde ich an Ihrer Stelle gleich auf SSDs umsteigen, dann passiert sowas garantiert nicht noch mal."
Ende gut, alles gut. Auch der Praktikant ist über die kreative Lösung hoch erfreut. Insbesondere der Umstieg auf SSD ermöglicht künftig eine reibungsfreie Minecraft-Session in der Firma. Ich erkläre mich sogar bereit, den virtuellen Server dafür umsonst einzurichten und zu warten - natürlich nur unter der Bedingung, dass ich mich von meinem Homeoffice aus einloggen und mitmachen darf.
So, und nun zur Freizeitgestaltung. Der lokal zuständige Wettergott hat sich doch noch für weiße Weihnachten entschieden, und heute war für uns alle der letzte Arbeitstag in diesem Jahr. Micha - der Praktikant - will noch seine Liebste einladen, ich ebenso meine bessere Hälfte, und wir treffen uns dann in ein paar Stunden auf dem Weihnachtsmarkt. Keine sensiblen Server oder nervösen Chefs mehr, die nerven. Einfach mal abschalten.
In diesem Sinne wünsche ich Euch und Euren Lieben erholsame und ruhige Feiertage, Salam, Peace, Frieden und Shalom!
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